9. Dezember 2006

Diagnose und Überwindung

 

Man kann es ja mal versuchen. Wenn das Unbehagen, vielleicht sogar der Ekel an der zeitgenössischen Kultur so groß geworden ist, dass man (möglicherweise eine einzige Person) alles riskiert, alles aufs Spiel setzt, nur um nicht mehr der schalen und leblosen Gegenwart ausgesetzt sein zu müssen. Im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts war es fast ein Gemeinplatz zu behaupten, das Abendland habe abgewirtschaftet. Doch wo kamen die neuen, aufbauenden Gedanken her? Aus dem Abendland selbst? Aus dessen verdrängten Bezirken, die man wieder anschlussfähig machen musste? Oder aus anderen Kulturen und Zivilisationen, die dem Abendland überlegen waren? Auch Antonin Artaud gehörte zu denen, die „alles“ unter Generalverdacht stellten: „Alle unsere Vorstellungen über das Leben müssen zurückgenommen werden in einer Zeit, da nichts mehr dem Leben anhängt.“ Artaud verknüpft mit Bergsons Vitalismus und Nietzsches Nihilismusverdacht eine sich von der Rück- bzw. Nachtseite des Lebens inspirieren lassende Kur, deren Programm sich per se nicht dem herkömmlichen Procedere verdanken kann. Wo es um Erfindung, Ablösung, Überwindung, Höherstufigkeit und permanente Revolution geht, lässt sich nicht schon im kritischen Vorfeld alles festlegen. Artaud macht sich auf die Suche nach einer Kultur, die endlich einmal (oder öfter) mit dem Leben zusammenstimmen würde. Die Kultur des Abendlandes wirkt nicht (mehr). Sie ist zum Ort bloßer Rezeption verkommen. Unbeteiligtheit ist ihr Signum. Eine große Kluft trennt die zum bloßen, zeremoniellen Formalismus heruntergekommene Kultur und das Leben, das sich nicht länger von ihr beleben lassen kann, weil diese schon lange tot ist. Artaud hofft auf so etwas wie das dritte Auge: „Es gilt zu beharren auf dieser Vorstellung einer wirkenden Kultur, die gleichsam zu einem neuen Organ wird in uns, zu einer Art von anderem Atem“. Ausgerechnet das Theater, also ein Teil dessen, das er verabschiedet, soll es richten. Ohne dass das Wort fällt, lässt sich Artaud von dem alten Konzept der Katharsis inspirieren. Nur dass der versuchte Austausch um einiges größer zu werden hat in Artauds Vorstellung. Das Theater ist wie eine Perle in der Muschel der Zivilisation, die es auszulösen gilt, um sie fruchtbar zu machen für eine völlig offene Zukunft. Und doch ist diese Offenheit nicht grenzenlos, glaubt Artaud doch in einem Teil der schlimmen Wirklichkeit, in Mexiko, eben das schon oder immer noch realisiert zu finden, was er sich selber erträumt, nämlich die Pflege und Ausübung magischen Seins. Das ist ja ein alter romantischer Gedanke, dass die Sprachen alle schon da sind, auf die man hofft, nur dass man sie noch nicht versteht. Artauds Theater soll eines sein, das die Beteiligten in das magische Geschehen hineinstößt. Das auszubildende Organ ist also schon da und wartet nur darauf, dass man auf es stößt, dass man sich daran anschließt zwecks Allausdehnung. Die Borniertheit, die Verdrängung müssen überwunden werden, um den aufgehaltenen Lebensstrom wieder fließen zu lassen. Dazu kann alles dienen, und seien es Katastrophen jeder Art, die die Augen öffnen, damit man sieht, was noch alles da ist und wie wenig man bisher war. Artaud war sich bewusst, was es mit diesen Wagnis auf sich hatte, Nonchalance war seine Sache nicht: Mittels eines krassen Bildes skizziert er die Unmöglichkeit einer leichten Lektüre und einer Umsetzung auf Abruf: „Wenn es überhaupt etwas Infernalisches, wirklich Verruchtes in dieser Zeit gibt, so ist es das künstlerische Haften an Formen, statt zu sein wie Verurteilte, die man verbrennt und die von ihrem Scheiterhaufen herab Zeichen machen.“

 

Dieter Wenk (11.06)

 

Antonin Artaud, Das Theater und die Kultur, in: Antonin Artaud, Das Theater und sein Double, Frankfurt am Main 1983 (Fischer)