8. Dezember 2006

Die umgekehrte Pyramide

 

Nicht alle Werke, die man zur deutschen Literatur zählt, lassen sich umstandslos lesen. Alt- und mittelhochdeutsche Texte setzen ein eigenes Studium voraus. Ein Teil deutscher Literatur ist sogar in einer „fremden“ Sprache geschrieben, nämlich in Latein, wie etwa Helius Eobanus Hessus’ 1514 erschienene „Heroidum christianarum epistolae“ (Briefe christlicher Heldinnen). Und so manche Texte, die eine Chronik erfasst, sind gar keine literarischen Werke im heutigen Sinn. Das liegt natürlich nicht daran, dass der Chronist eben eine subjektive Auswahl treffen musste aus der großen Anzahl von Texten, sondern dass das, was Literatur heißt, zu verschiedenen Zeiten Verschiedenes umfasste. Unser heutiges Literaturverständnis ist ja noch relativ neu, eine Mitgift aus der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Gerade in der frühen Zeit erschienen viele Texte ohne Autornamen wie das „Nibelungenlied“. Ein allgemeines Lesepublikum gab es noch nicht. Auf knapp 800 zweispaltig gedruckten Seiten versammelt Volker Meid cirka 1500 „Werke“ eben nicht nur deutschsprachiger Literatur, und es ist sehr spannend zu verfolgen, wie sich Literatur in unserem heutigen Verständnis erst allmählich aus einem viel größeren Textfundus herauskristallisiert, zu dem u.a. etwa frühere Chroniken, naturheilkundliche Schriften, Weihnachts- und Osterspiele, aber auch juristische Schriften gehören. Ab dem frühen 17. Jahrhundert stößt man auf Tendenzen, der deutschen Literatursprache ein stärkeres vereinheitlichendes Kleid zu verpassen (Opitz) und überhaupt die deutsche Sprache als Literatursprache Ernst zu nehmen, waren doch die Theatertexte der vorhergegangenen Zeit lateinisch verfasst (Humanistendrama). Ergebnis dieser wichtigen poetologischen Strömung sind Texte, die als „Summe“ eine Art Generalbestandsaufnahme der deutschen Sprache vorlegen und Grammatik, Rhetorik, Poetik, Literaturgeschichte, aber auch Kulturpropaganda sind. Meids Chronik zeigt deutlich, dass deutsche Literatur bis weit in die Neuzeit eine vor allem von anderen Sprachen und Literaturen abhängige war. Das erste deutsche Theaterstück, das man z. B. in England auf der Bühne zeigte, war Lessings „Minna von Barnhelm“. Und was wäre Ludwig Tiecks Theater ohne die Rückgriffe auf Shakespeare oder das spanische Theater? Die Anordnung der halb- bis etwa anderthalbseitigen Texte Meids folgt den Erstdrucken bzw. dem Erscheinungsjahr der Werke. Das führt an manchen Stellen zu der erstaunlichen Einsicht, dass manche Texte noch lange Jahre nach ihrer Entstehung gar nicht „existierten“, wurde doch Büchners „Woyzeck“ beispielsweise erst 1879 zum ersten Mal veröffentlicht, zur Uraufführung kam es gar erst 1913 (unter dem Titel „Wozzeck“). Auch Kleists „Penthesilea“ musste lange auf ihre Uraufführung warten, die erst 65 Jahre nach Kleists Tod stattfand. Beim Blättern in dieser Chronik wird dem Leser vielleicht auch auffallen, dass es in der Zeit von 1700 bis 1730 anscheinend kaum eine nennenswerte Literatur gegeben hat. Umgekehrt muss natürlich, je näher man der Gegenwart kommt, auf vieles verzichtet werden, was auch einen eigenen Eintrag verdient hätte. Meid entschließt sich dazu, viele Autoren mit ihrem vielleicht bedeutendsten Werk vorzustellen und unter diesem Lemma dann auch weitere Hinweise zur Entwicklung des Autors zu geben. Dass Autoren wie Gisela Elsner oder Robert Gernhardt gar nicht erwähnt wird, ist zwar bedauerlich, andere Chronisten würden jedoch nur andere Lücken vorgewiesen haben. Für jedes Jahr (ab etwa 1750) wird eine Auswahl von etwa zwei bis sechs Werken getroffen, und hat man die Zahlen der in jedem Jahr veröffentlichten Texte im Kopf, weiß man, wie sehr eine Chronik sieben muss, was dem Nutzen von Meids Buch im Sinne einer primären Orientierung keinen Abbruch tut. Die Chronik schließt mit Literaturhinweisen und einem Personen- und Werkregister. Die vorliegende dritte Auflage hätte bezüglich der Todesdaten auf den neuesten Stand gebracht werden können, so starb Claus Bremer 1996, Karl Krolow 1999, Karl Mickel 2000, Stefan Heym 2001, Luise Rinser 2002, Wolfgang Bauer 2004, Max von der Grün 2005. Oskar Pastior starb erst nach Erscheinen dieser Auflage. Reinald (sic) Goetz mag sich über die falsche Schreibweise seines Vornamens ärgern, aber ansonsten kann man diese Chronik nur empfehlen.

 

Dieter Wenk (12.06)

 

Volker Meid, Metzler Literatur Chronik. Werke deutschsprachiger Autoren, 3., erweiterte Auflage, Stuttgart, Weimar 2006 (Metzler)