1. Dezember 2006

Himmlische Verbindungen

 

Letztlich wird Peter Weiss, der jedenfalls dieses Romans, seines letzten, ein Statistiker gewesen sein. Kein amtlicher, kein privater, aber doch ein Kulturstatistiker. Und da auch ein solcher nicht vom Himmel gefallen ist, immerhin aber Drähte nach oben bestehen, zu Mnemosyne, der Göttin der Erinnerung, darf man damit rechnen, dass dieser Roman als Auftragsarbeit entstanden und verfasst ist. Man lese selbst: „Die Mneme, beschützt von der Göttin Mnemosyne, leite uns zu den künstlerischen Handlungen an, und je mehr wir von den Erscheinungen der Welt in uns aufgenommen hätten, zu desto reicheren Kombinationen könnten wir sie bringen, zu der Vielfalt eben, aus der sich der Stand der Kultur ablesen lasse.“ Das belesene Autorenich zitiert hier den weisen und parteiunabhängigen Arzt Hodann, der dem Leser im Laufe des statistischen Erhebungszeitraums (1937-1945, mit etlichen chronologischen Zusatztafeln aus Antike und Neuzeit) immer wieder begegnet, im Spanien des Bürgerkriegs etwa und im Exilland Schweden. Dem dem Zitat zu entnehmenden kulturellen Ableseertrag durch die „mnestischen Funktionen“ als Ziel der ganzen Übung kommt der stilistische Ton dieser Ästhetik absolut entgegen: Es geht hier um nichts anderes als um eine „Abhandlung“, eine „nüchterne Beurteilung“. Von was? Ob der Leser jetzt eher an Sartre oder an Debord denkt, ist ihm überlassen, auf jeden Fall ist der Gegenstand des Schreibens „das Erkämpfen einer Situation“, die der Autor erfüllt sehen möchte mit „kulturellen Gütern“. Das ist wohl etwas mehr als die Kuriosität einer konservativen Revolution, aber doch nicht so wild wie das vorschnelle Kaputtmachen des Maschinenparks einiger englischer Fabrikarbeiter aus dem 19. Jahrhundert. Wie auch immer, die Frage bildet fast den Leitfaden des Romans: Existiert so etwas wie ein statistisches Mittel zwischen Politik und Kultur? Tut der Berufsschriftsteller den gleichen Job wie der Berufsrevolutionär, oder handelt es sich dabei um Augenwischerei? Nehmen wir Thomas Mann zum Beispiel, Berufsschriftsteller unbesehen, aber Revolutionär, nur weil er ein paar Unterschriften gegeben hat? Da wären manche ziemlich sauer, die proletarisch richtig in die Bresche sprangen (und damit meine ich noch nicht mal den Snob Brecht, den der Autor anscheinend gar nicht so mag). Kunstautonomie ist also nicht. Kunst soll aber auch keine moskowitische Sklavin sein. Nicht politische Revolution, sondern Kulurrevolution ist das Stichwort. Frei nach Willi Münzenberg heißt es, mit selbstverständlicher Beharrlichkeit zur langsamen Umwälzung beizutragen (wer auf halbem Wege stehen bleibt und sich nach hinten umschaut, um dort weiterzugrasen, ist dann ein kultureller Gegenrevolutionär, was in heutigen Retrozeiten natürlich eine absurde Bezeichnung ist). Die Haltung des Autors zu seinem Stoff ist also ein vertrauensvolles Sich-gehen-lassen, eine hellseherische Materialüberlassenheit, und das Schreiben, ohne deshalb gleich automatisch zu sein, lichtet das Dickicht als bloßes Instrument, zugehörig einer in dem Roman allerdings nicht weiter beschriebenen „Weltwissenschaft“. Das hört sich ziemlich gut und vertrauenserweckend an und bestätigt die Anfangsvermutung, dass der Leser es hier mit einer Art höheren Mathematik zu tun hat. Belletristische Quasi-Statistik. Oder so. Am Ende ist man wirklich so reich beschenkt worden von Mutter Mneme (immerhin knapp 1000 Seiten), dass man aus einer durch den Leseprozess sich heraus entwickelt habenden politisch-kulturellen Standorteartistik wunderbar jonglieren kann, ohne doch die beinharte Widerstandsarbeit leisten zu müssen, die den Helden dieses Romans auferlegt war. Aber irgendwas muss das Gedächtnis vergessen haben mitzuteilen, und das hat direkt zu tun mit dem wie auch immer gearteten Interpretanten der Statistik, der aber nicht mit dem Leser zusammenfällt, sondern hinter dem sich etwas durchaus Bestialisches verbirgt, ein tierischer Entscheider, der auch heute noch, scheint es, darauf wartet, verkörpert zu werden.

 

Dieter Wenk (11.02)

 

Peter Weiss, Die Ästhetik des Widerstands. Roman, Frankfurt 1975-1981 (Suhrkamp)