30. November 2006

Auf der Überholspur

 

Das Wirtschaftsunternehmen als moralische Anstalt? Was für die einen wie ein albtraumhaftes Sciencefiction-Szenario klingt, für andere nach blauäugigem Idealismus, ist längst Realität. International agierende Unternehmen besinnen sich auf verbindliche Werte. Und das dringender denn je. In Zeiten globaler Sachzwänge und scheinbar immer enger werdender politischer Spielräume fällt nicht mehr allein dem Staat die Aufgabe zu, die ökonomischen sowie sozialen Lebens- und Arbeitsbedingungen der Menschen zu gestalten, sondern den Firmen selbst. Zunehmend werden die Konzerne sich ihrer politischen, ökologischen und sozialen Verantwortung bewusst und reagieren darauf mit selbst gesteckten Werten. Wer das nicht als reinen Marketing-Gag oder als interne Corporate Identity abtut, kann, wenn er sich die Konzernwerte beispielsweise von der Volkswagen AG vornimmt, zu interessanten Erkenntnissen gelangen.

 

Das Buch „SPURWECHSEL – Wirtschaft weiter denken“ mit sieben Aufsätzen illustrer Geistes- und Wirtschaftswissenschaftler versucht, die sieben Wertvorstellungen von VW: Respekt, Verantwortung, Höchstleistung, Kundennähe, Werte schaffen, Nachhaltigkeit und Erneuerungsfähigkeit, zu hinterfragen. Das ist ein brauchbares Unterfangen, weil Ökonomen zurzeit wieder zu einem seltsamen Anachronismus neigen, der eher mit frühkapitalistischen Mythen zu tun hat als mit derzeit zu beobachtenden Realitäten.

 

Die sieben Autoren dieses Sammelbands nehmen sich daher Ballons, auf denen „Nachhaltigkeit“, „Kundennähe“, „Verantwortung“ oder „Respekt“ steht und pieksen hinein. Meist bleibt der Knall aus: Die Luft entweicht mit lauwarmen Gezisch. Das ist zwar nicht das Anliegen von „Spurwechsel“, aber unverzichtbarer Nebeneffekt. Hier geht es darum, sich endlich einzugestehen, dass man in einer angekommenen Wirtschaft lebt. Was im übertragenen Sinn bedeutet, dass man sich nicht in enge T-Shirts und mit 45 in die Disco zwängen muss, sondern eben weiß, dass die Disco etwas für die jungen Steigerungsgesellschaften ist. Es gilt, ein anderes Glücksgefühl zu entwickeln, ein Bewusstsein für das, was so eine angekommene Gesellschaft für Werte aufgerichtet hat, und mit diesen zu arbeiten, statt sie in Nebel privater Gefühligkeiten zu hüllen. Bisher werden dieser Ebene nur kitschige Werbespots und schmeichelnde Materialien angedienert, das ist unterkomplex und wird dem gesellschaftlichen Kontext, in dem sich die Bundesrepublik befindet, nicht annähernd gerecht.

 

Auch Moral ist kein löblicher Zusatz, sondern das entscheidende Pfund, mit dem Europa wuchern kann und muss. Die Krawalle der französischen Jugendlichen in der Banlieu von Paris sind übrigens nicht Ausdruck gescheiterter Integration, sondern gerade Zeichen ihrer wuchtig einsetzenden Kraft. Diese Jugendlichen wollen dazugehören und dürfen nicht mitspielen, was sie verständlicherweise ärgert, so Ulrich Beck, der auch einen Beitrag zur aktuellen Bürgerlohndebatte liefert und darlegt, dass man bestimmte Vorstellungen aus der „Häkelecke“ holen muss, die dort schon sehr lange aufgeribbelt und wieder zusammengerauft werden. Auch dabei geht es um Respekt, nämlich vor Ideen, die schon sehr alt sind, und aber bei Respekt eben auch darum, dass es in der Welt nicht um blödsinnige Affirmation, sondern eben um die Anerkennung der unüberbrückbaren Unterschiede geht, ohne dabei das Gespräch abzubrechen.

 

Ein Wirtschaftsbuch mit einem ausführlichen Artikel über Ergebnisse aus der Hirnforschung zu beginnen, in dem der Kognitionsforscher Gerhard Roth zu dem Schluss kommt, dass die Fähigkeit zu Höchstleistung und Intelligenz angeboren ist, es also keinen Sinn macht, Mitarbeiter mit Argumenten zu motivieren, ist ein mutiges und spannendes Unterfangen. Hier wird Wirtschaft, wie es im Untertitel steht, tatsächlich sehr viel weiter gedacht. Doch sollte man sich nicht in Kategorienfehler verstricken, den freien Willen plötzlich abschaffen zu wollen aus hirnphysiologischen Gründen und dafür nun ein eher reflexartiges Gewese von Affekten zu setzen, um zu sagen: Nein, also der Wille ist nicht frei, und deshalb ist es unsinnig, seinen Mitarbeitern mit vernünftigen Argumenten zu kommen. Denn selbst Menschen mit nicht so freiem Willen sind sehr wohl – aus welchen Gründen auch immer – empfänglich für Argumente. Beispielsweise für die von Managementautor Reinhard K. Sprenger in seinem polemisch-kritischen Text über die Unsinnsvokabel „Nachhaltigkeit“, ein wahres Highlight in der Wirtschaftsliteratur.

 

So unterschiedlich die Herkunft und die Ansätze der Autoren, so unterschiedlich sind dann aber auch die Ergebnisse, zu denen sie gelangen. Der Blick von der (Überhol-?)Spur ist so erfrischend wie irritierend. Ob die AutoUni Wolfsburg sich darüber im Klaren war, wie sehr sie ihre Leitideen mit dem von ihr selbst initiierten kritischen Projekt infrage stellt?

 

Spätestens wenn der Präsident der Fraunhofer-Gesellschaft Hans-Jörg Bullinger in seinem Beitrag über „Erneuerungsfähigkeit“ von der Notwendigkeit zu „schöpferischer Zerstörung“ spricht und man an die schöne quasitautologische Bemerkung von Sprenger denkt, „Wettbewerbsfähig sein ist nachhaltig“, wird klar, dass es mit den Konzernwerten nicht so weit her ist. Es geht dem jeweiligen Konzern selbstredend zunächst einmal um das eigene wirtschaftliche Überleben, und das dazu in diesem Buch noch aus Sicht des ökonomisch defensiven Standorts Europa. Vergegenwärtigt man sich darüber hinaus, dass die durchschnittliche Überlebensdauer von Unternehmen nur 30 Jahre beträgt, wäre die ernsthafte Verfolgung der aufgestellten Werte auch gar zu selbstlos.

 

Ja und so kann man also doch wieder sagen, Hirnforschung hin oder her, was Faust mit einem als Pudel getarnten Teufel hinterm Ofen schrieb:

 

„Mir hilft der Geist! Auf einmal seh ich Rat

Und schreibe getrost: Im Anfang war die Tat!“

 

In diesem Buch ist der Teufel allerdings nicht als Pudel, sondern als Volkswagen getarnt, daher nimmt die Reihe von Vorträgen nämlich ihren Anlass, als Debatte um die Unternehmenswerte des Volkswagen Konzerns.

 

Gustav Mechlenburg

 

Erstveröffentlichung: Financial Times Deutschland 29.11.2006

 

Walther Ch. Zimmerli / Stefan Wolf (Hg.): Spurwechsel. Wirtschaft weiter denken, Murmann Verlag, Hamburg 2006, 304 Seiten, 25 Euro

 

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