25. November 2006

Vorsicht, Trickbetrüger

 

Unter Zugrundelegung der klassischen Affektenlehre, auf die sich noch Kant positiv bezog, hätte dieses Buch nicht geschrieben werden können. Die Unterscheidung etwa von Affekt und Leidenschaft hätte von vornherein hintertrieben, was Peter Sloterdijk unter dem Kapiteltitel „Theorie des Stolz-Ensembles“ zu etablieren versucht, nämlich die Durchlässigkeit zueinander so unterschiedlicher psychischer Phänomene wie Stolz, Zorn, Selbstbewusstsein und Ressentiment. Während noch für Kant der Zorn ein Affekt war, der „stürmisch und unvorsätzlich“ aufbraust und sogleich wieder verschwindet, und der Hass eine Leidenschaft, „anhaltend und überlegt“, so unternimmt es Sloterdijk in „Zorn und Zeit“, für diese Aspekte ein gemeinsames Paket zu schnüren und über mehr oder weniger raffinierte Umbuchungs- und Speicher- bzw. Ablageverfahren eine instrumentalisierbare Logistik zu beschreiben, die mittels einer „Bank des Zorns“ eine zumindest in der Moderne ziemlich bedrohliche Instanz wird. Der Einstieg in die Thematik geht jedoch gänzlich unmodern vonstatten. Sloterdijk wählt als Ausgangspunkt seiner Untersuchung einen Grundlagentext abendländischer Kultur überhaupt, nämlich Homers „Ilias“, genauer: den ersten Satz, noch genauer: das erste Wort, „menis“, also zu deutsch etwa „Zorn“. Das ist nicht uninteressant zu lesen, bringt aber vom Sachgehalt nicht sonderlich viel, weil Sloterdijk etymologisch nicht sonderlich interessiert ist und auch sonst diesen Begriff, menis, weder innerhalb der Ilias weiter situiert noch ihn im weiteren Verlauf des Buchs weiter benutzt, denn schon bald wird die menis gegen den thymós ausgetauscht, den Stolz, ohne dass auch hier Erklärungen dazu abgeliefert werden, in welchem Verhältnisse die beiden Begriffe stehen. Es wird hier sowieso nichts begründet oder abgeleitet, dafür ist umgekehrt der Respekt heischende Auftritt des Autors umso auffälliger, der sich oft darin gefällt, in bekannt eloquenter, auf rhetorisch hoch stehender Stufe in populistischer Manier seine Gegner abzukanzeln und ihnen vorzuwerfen, dass sie es nicht sonderlich weit gebracht haben im Erschnüffeln des Weltgeists. Denn nichts Geringeres als dieser durchweht dieses Buch, dessen Autor so göttlich auftritt, in dessen Behauptungskatalog jedoch die bloßen syntagmatischen Links noch nicht den kausalen Nexus zu verbürgen vermöchten. Solche Bücher nennt man dann immerhin „anregend“, ein Etikett, was man auch „Zorn und Zeit“ nicht abstreiten wird. Was aber eben gar nicht funktioniert, ist der große historische Bogen, den Sloterdijk zeichnet: Das zugrunde liegende abstrakte Schema ist nämlich ganz und gar unhistorisch und kommt den geschichtlichen Phänomenen nur insofern nah, als es sich in ihnen spiegelt, nachdem man das Schema vorher dort als Grundlage platzierte. Die Argumentation ist also nicht die Stärke des Buchs. Wird bei den sehr alten Griechen der Zorn noch als „invasive“ Kraft bezeichnet, die, wie die Anmut, ein Geschenk der Götter darstellt, das die Menschen überkommt, so lautet Sloterdijks Programm nur kurze Zeit später folgendermaßen: „Die Aufgabe lautet also, eine Psychologie des Eigenwertbewusstseins und der Selbstbehauptungskräfte wiederzugewinnen, die den psychodynamischen Grundgegebenheiten eher gerecht wird.“ Wie Sloterdijk zu solchen Grundgegebenheiten kommt, wird nicht klar. Auch das Projekt der „Wiedergewinnung einer authentischen politischen Psychologie auf den Grundlagen der wiederhergestellten Eros-Thymos-Polarität“ hängt insofern im Raum, als nicht klar ist, wo diese proklamierte Polarität eigentlich herkommt. Man muss hier Sloterdijk Grobianismus vorwerfen, aber vielleicht gilt das für alle konstruktivistischen Ansätze, die mit Yin und Yang bewaffnet durch die Geschichte trudeln. Genauso gut könnte man sagen, dass Sloterdijk mit einem substantialistischen Ansatz aufwartet, denn die Kategorie des Zorns mitsamt seinen Satelliten wird hier als psychische Substanz gefasst, die zu verschiedenen Zeiten verschieden angezapft werden kann. Zorn ist ein „Rohstoff“. Das ist wohl der größte Irrtum des Buches. Sein Metaphernbau, die Beschreibung von Teilen eines psychischen Modells in Begriffen der Volkswirtschaftslehre. (Ganz neu ist das Verfahren nicht, Freud ist auch so vorgegangen, nur hat sich Freud nach Sloterdijk in der Beschreibung der Hauptzentrale der Bank völlig geirrt.) Zorn ist nach Sloterdijk eine Art Währung, die man spontan ausgeben, die man aber auch für den späteren Gebrauch deponieren kann. Genau hier ist ja der Punkt, wo die Sloterdijksche Affektenlehre es gebietet, die psychischen Phänomene durchlässig zu gestalten, weil sonst die unterschiedlichen Zeitlichkeiten ihrer Unterarten nicht kombiniert werden könnten. Im Grunde macht Sloterdijk nichts anderes, als den politischen Makrokosmos, den er einlässig in den Katastrophen des Kommunismus Leninscher, Stalinscher und Maoistischer Ausprägung beschreibt, in die Funktionsweise von Einzelpsychen hineinzutransponieren. Man ist hier in der schönsten Paracelsischen Welt. Man hat den Eindruck, Sloterdijk hätte den Versuch machen wollen zu schauen, wie weit man ein einmal gefundenes Bild metaphorisch treiben kann zur Beschreibung einer Funktionsweise, die bekannt ist (Kommunismus-Kritik), von der Sloterdijk gleichwohl behauptet, dass zu ihrem Verständnis das Entscheidende noch fehle, nämlich die Anbindung der äußeren Geschehnisse qua historischer Katastrophe an die ihnen zugrundeliegenden psychischen Infrastrukturen, die als psychologisch-ökonomische Nomenklatur aufwartet. Völlig unklar bleibt bis zuletzt, was der Zorn für eine Größe ist, ob er eher positiv oder negativ gesehen wird, was für einen Unterschied es macht, von einem Einzelzorn und einem Gruppenzorn zu sprechen und was Zorn, als Affekt, überhaupt mit Selbstbewusstsein und einem stringent konzipierten Geschichtsplan, individuell oder universal, zu tun hat. Gerade am Anfang hat der Leser den Eindruck, er solle hier an eine Kraft erinnert werden, die lange verschüttet lag oder er solle sich endlich von einer larmoyanten Einstellung lösen, die ihn davon abbringe, er selbst, als stolzer Mann oder stolze Frau, zu sein. So gesehen ist „Zorn und Zeit“ ein Erweckungsbuch für eingeschlafene Westler, die völlig vergessen haben, wie sehr sie ihren Selbstrespekt verloren haben. Dass der Zorn aber nun wirklich der falsche Kandidat ist, um an ihn zugleich selbst erhöhende und zivilisierende Energien zu knüpfen, zeigt Sloterdijk selbst in seinem das Buch abschließenden panoramatischen Blick auf die Gegenwart, wo die gesellschaftlichen Phänomene in den Blick geraten, innerhalb derer der Zorn keine sublimierende Funktion erfüllt: etwa die Randzonen der Großstädte oder die Zukunftslosigkeit vieler junger Männer aus den arabischen Ländern. „Zorn und Zeit“ ist die Entwicklung einer einzigen schiefen Metapher. Ästhetisch gesehen ist das sehr interessant.

 

Dieter Wenk (11.06)

 

Peter Sloterdijk, Zorn und Zeit. Politisch-psychologischer Versuch, Frankfurt am Main 2006 (Suhrkamp)

 

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