20. November 2006

Schatzsuche und Schicksalsmärchen

 

Die Grell- und Überspanntheit von André Kubiczeks zweitem Roman, „Die Guten und die Bösen“ (2003), waren wohl kaum noch zu übertreffen. Zwar gibt es formal viele Ähnlichkeiten (die zahlreichen Eingänge in die Handlung und parallelen Stränge, die erst ganz zum Schluss gebündelt werden, die Technik der Einschachtelung – hier als Titel-„mise en abyme“, die Multiperspektivik), aber an nicht wenigen Stellen merkt man es „Oben leuchten die Sterne“ an, dass Kubiczek durchaus Lust entwickelt auf so etwas wie klassisches Erzählen, zum Beispiel einer Novelle. Am Anfang des Kapitels „Geheimes Deutschland“ aus dem gleichnamigen zweiten Teil des Buchs glaubt man sich um gut hundertfünfzig Jahre zurückversetzt, realistische Erzählkunst, ein auch geografisch orientierter auktorialer Erzähler, der das Gelände absteckt: „Durchquert man“, so heißt es da, „ von F*burg (sic) kommend, das Höllental auf der so genannten Grünen Straße, die, in den Vogesen beginnend, den Schwarzwald schneidet und sich bis zum Bodensee zieht, fährt man zwischen den steil aufragenden, Hunderte Meter hohen Felswänden…“ usw. Natürlich geht es in diesem Roman nicht immer so beschaulich zu – gleich die erste Szene überhaupt ist einem Verkehrsunfall gewidmet, der in einem relativ hohen Erzähltempo geschildert wird –, aber dieses Buch ist alles andere als hektisch, es beginnt als Roadmovie, garniert mit vielen Rückblicken, es lässt an vielen Stellen das Schicksal, den Zufall mitspielen, was zu einer Reihe von unverhofften Wiederbegegnungen der Figuren führt, und „Oben leuchten die Sterne“ ist insgesamt zweigeteilt, eine formale Entscheidung, die sich ganz banal im Inhaltlichen widerspiegelt, denn es geht um nichts anderes als um Einblicke in das geteilte Deutschland, und so stammt ein Teil des Personals aus dem Osten, dem Harz (K*stadt), ein Teil aus dem Westen, Berlin und dem Schwarzwald. An den seltsamsten Orten laufen sich ganz normale, manchmal auch sehr kuriose Gestalten über den Weg, zum Beispiel Rock und Bender, die mit ihrem VW-Bus (mal wieder) von Berlin gemeinsam in den Süden aufbrechen und in der tiefsten deutschen Provinz auf eine nicht mehr ganz junge Frauen-Combo stoßen, die es musikalisch noch mal wissen will; ein älterer Herr, ein Herr Dr. Winter, taucht auf einer gottverlassenen Autobahnraststelle auf und entwickelt sich zu einer Art personengewordenem Schicksal der Handlung; ein gewisser Duss, charismatisch und reich, lockt aus der Ferne und setzt das Road-Movie in Gang. Die erste Partie des Romans endet mit einem gigantischen Cliff-Hanger. Aber nichts anderes war die Teilung Deutschlands, nur dass man nicht sicher sein konnte, wann die Werbepausen und Schulungsphasen enden würden. Der Roman setzt jedenfalls ganz neu an, man befindet sich zwar wieder in Berlin wie am Anfang des ersten Teils, aber 60 Jahre früher, kurz nach dem Krieg. Ganz langsam folgt man dem Zeitstrahl, die Ost-West-Problematik treibt die Figuren um und diktiert ihr Handeln. Alles läuft auf den 17.6.1953 zu, den Tag, als ostdeutsche Arbeiter es nicht hinnahmen, nach erhöhten Normen zu arbeiten. Dieses Datum, dieser Tag wird eher umstellt als dass er als einmaliges Datum passiert wird. Aus drei verschiedenen Perspektiven wird ein signifikanter, wiewohl fiktiver Teil dieses Tags erzählt, als ob die Suche nie nur aus einer einzigen Fragerichtung zu erfolgen hätte. Kubiczek taucht ganz tief in die romantische Zauberkiste, denn es ist ein großer Spaß, nach und nach die einzelnen Figuren zu enttarnen und ihre wahre oder zweite Identität zu erfahren. Alte Männer sind nie so alt, dass sie nicht selbst noch Väter haben könnten, die es aufzufinden gilt. Natürlich ist am Ende alles mit allem und alle mit allen verbunden, und dieses Movie ist auch ein bisschen die Suche nach dem Gral, es wird tatsächlich ein Schatz gehoben, und Rock und Bender, die am Anfang noch etwas schlapp, „slacker“-mäßig, vorgeführt werden, sind schließlich so weit gestählt, dass sie ihren weiteren Lebensweg wohl selbstständig beschreiten können, vielleicht auch zielorientierter als bis dahin. „Oben leuchten die Sterne“ ist ein ganz unaufgeregtes Buch, das man bis zum Ende nicht mehr aus den Händen legen wird.

 

Dieter Wenk (11.06)

 

André Kubiczek, Oben leuchten die Sterne. Roman, Berlin 2006 (Rowohlt Berlin)