14. November 2006

Klein angelegte Großgroteske

 

»Es ist überhaupt kein Leistungsnachweis, wenn man am Morgen aufsteht. Viele stehen jeden Morgen auf. Ich tue das nicht aus Überzeugung oder aus Erziehung, ich stehe einfach auf, weil ich aufstehe.

 

Um 7.15 Uhr geht es los. 8.15 Uhr eine Stunde. 9.15 Uhr zwei Stunden, 10 Uhr Pause. Das sind bereits zweidreiviertel Stunden. 10.15 Uhr bis 12.00 Uhr sind nochmal eindreiviertel Stunden. Dann Pause bis 13 Uhr. Bis 15 Uhr sind nochmal zwei Stunden, nochmal Pause. Pause. Dann nochmal von 15.15 Uhr bis 16.30 Uhr, dann ist Schluss. Sind ungefähr alles zusammen achteinviertel Stunden, genau wie vorgesehen. Genau wie es sein soll. Das ist im Sommer und Winter genau gleich, im Sommer ist nur das Wetter anders als im Winter. Sonst ist es dieselbe Arbeit.

 

Mit dem Zeigefinger der linken Hand sanft über die Nasenflügel streichen, das ist Arbeit. Wenn ich den Fahrschein löse, die Kaugummi kaue, die Zigaretten am dafür vorgesehenen Ort ausdrücke, dann ist das Arbeit. Wenn es niemand sieht, dann ist das auch Arbeit. Ich habe viel Arbeit, die keine ist.«

(aus: Michael Stauffers Normal)

 

Marcel Oliver ist arbeitslos, und das wohl schon länger. Er studiert seinen Arbeitsberater und die Menschen im Park. Er beobachtet sich selbst und seine Empfindungen. Ihm ist geheuer dabei, ja, er fühlt sich wohl. Manches ist problemlos, mehr als manch einem recht ist. »Manchmal helfe ich Tieren, manchmal Menschen. Ich rede ihnen zu und schicke ihnen positive Gedanken. Dabei denke ich immer nichts Genaues.«

 

Der 1972 in Winterthur/Schweiz geborene Dichter Michael Stauffer, der auch Theaterstücke und Hörspiele schreibt, schlüpft in seinem dritten Prosaband als verwirrend kongruent wirkender Ich-Erzähler in die Rolle dieses gewissen Marcel Olivers, der das Phänomen Arbeitslosigkeit auf seine ganz eigene Weise durchdekliniert. In 39 Kapiteln auf insgesamt 69 Seiten bespielt er des Lesers Fassungsvermögen auf einer Ebene, in der das Schmunzeln als buddhistische Übung zum Text dazugehört, und die Leser einbezieht in die immanente Lehre. Man wird selbst zum Anhänger, zum Jünger seines Gebieters, des Autors – oder nur zum Jünger von dessen Protagonisten? Marcel Oliver jedenfalls gründet nach kurzem Menschen-Studium eine Sekte, in der das höchste Glück dadurch erreicht wird, dass man seine pralle Blase bei strömendem Regen entleert. Ein Vorgang, den Marcel selbst erprobt hat und den er zum Höhepunkt seiner ersten Sektentagung deklariert. Das wirkt, auch wenn man als Leser nicht vom Regen in die Traufe kommen mag.

 

Die Entwicklung von Marcels Großunternehmerschaft (am Ende sind es 3500 Mitglieder, die ihm Respekt zollen und seiner »Vereinigung für normales Glück« Geld überweisen) wird so virtuos und auf den ersten Blick unspektakulär verdreht geschildert, dass einem der Schmalz aus den Gehirnwindungen tropft. Bitte nicht kleckern! Klotzen!, mag sich Stauffer gedacht haben, als er beim Drehen seiner gedanklichen Pirouetten dieses Lehrstücks, das u.a auch zwischen einem Till- Eulenspiegel-Streich und Helge Schneiders Hörstück »Arbeitsamt II« seinen Platz fände, so richtig in Schwung gekommen sein mag. Eine Gesellschaftssatire ist nichts dagegen! Aus einer überaus schnittigen Ich-Perspektive, in der schier alles möglich und erlaubt ist, spricht das Opfer, das sich aus eigener Kraft zum Helden aufgeschwungen hat, aus einer irren Überzeugung von seinen Taten, die den Schwindel »Arbeit« in all ihrer nichtsnutzigen Lächerlichkeit, Doppeldeutigkeit und Schweinerei entlarven. Wer die Bedeutung der Begriffe bestimmt, hat Macht. Das ist das Terrain, auf das Stauffer sein(e) Wesen treibt.

 

Der Text kommt so dermaßen leicht und vergnügt daher und kehrt doch eine ganze Armee von Steppenrollern an gesellschaftlicher Verklärung vor sich her, dass es brummt und schnarrt.

 

»Ich mache Sauggeräusche, wenn mich eine meiner Schwestern anruft. In schneller Folge sage ich ja, ja, ja. Ich habe am Anfang gedacht, dass mich meine Schwestern in Ruhe lassen, wenn ich alles bejahe. Während der Telefongespräche wippe ich mit dem Oberkörper und nicke.

 

Wenn ich sage, dass es mir gut geht, dass ich tagelang zu Hause sitze, nichts tue, nichts tun will, dann wollen Corinne und Silvia mir einreden, dass es mir, wenn ich nichts tue, schlechter gehe als ihnen, wenn sie viel tun.

 

Ich lese am Telefon aus Fallstudien von Langzeitarbeitslosen vor. Ich benutze zwei farbige Filzstifte. Mit Grün streiche ich an, was ich Corinne vorgelesen habe, mit Blau markiere ich, was Silvia bereits zu hören bekommen hat. Ich liefere, was man von mir denkt, noch präziser. Das ist ein gutes System, das zu hervorragenden Resultaten führt.«

 

Man mag sich mit diesem Buch über das Elend echter Arbeitsloser kurz hinwegtäuschen. Das aber rät Stauffer nur zur Schärfung der Sinne, vermute ich ungefragt, um danach die Sache mit noch größerem Engagement, mit noch größerem Entsetzen verstanden, bekämpft und bemitleidet zu wissen. Oder? Ist das Buch nur ein gewitztes Intermezzo in der bleischweren Verstummung dieser Menschenmasse? Ja und nein.

 

»Aber wo andere Autoren das grosse Wehklagen und Jammern anstimmen, reagiert Michael Stauffer provozierend stoisch: Er weiss, dass subversiver Humor und Spielfreude die probateren Mittel sind, gegen die konstatierte Entfremdung anzuschreiben«, berichtete Hansjörg Schertenleib in Die Weltwoche am 11. März 2004 über Stauffers zweites Buch. Es wiegt so viel wie eine Tafel Schokolade mit viel Pappe drumrum: 140 Gramm bei knapp 60 Seiten. Der Titel Haus gebaut, Kind gezeugt, Baum gepflanzt. So lebt ein Arschloch. Du bist ein Arschloch hat vielen Leuten Mut gemacht und noch mehr Leser abgestoßen. Das kann Laune machen. Muss aber nicht. Es ist ein Buch über das Zusammenleben von Mann und Frau, geschrieben aus der weiblichen Perspektive, in Hinblick auf ein fortgegangenes Arschloch, das eben alles getan zu haben glaubte, was es als Mann leisten soll, um sich danach unmenschlich benehmen zu können.

 

»Die Waffen, mit denen der Autor diesem Grauen zu Leibe rückt, sind lapidare Lakonie, Präzision und eine Komik, die der Verzweiflung geschuldet ist«, schrieb Schertenleib über den Zweitling.

 

Was aber passiert, wenn aus der Verzweiflung eine allgemeine Entzückung über die Verzweiflung wird? Entspricht das nicht genau dem medialen Geist unserer Zeit, dem eigentlich der Garaus gemacht werden soll?

 

Stauffers Prosadebüt von 2001 hat 80 Seiten und heißt I promise when the sun comes up, I promise I'll be true. Es besteht aus Notizen und Fußnoten, ist ein Tagebuch mit Tabellen und Listen, in dem neben der wiederkehrenden Schwanenjagd am See und Staublandschafts-Beobachtungen im Zimmer Grundsätzliches zu den Themen »Wohnen«, »Rausgehen«, »Einkaufen« und »Reinkommen« geschildert wird. Das haben andere auch schon gemacht, nur anders: ausladender, anstrengender, experimenteller.

 

Das St. Galler Tageblatt lobte 2004 in der Rezension des Buches Haus gebaut, Kind gezeugt, Baum gepflanzt. So lebt ein Arschloch. Du bist ein Arschloch ganz generell Stauffers »Blick fürs unerhört Banale, fürs Groteske des Gewöhnlichen, diesen Wille zur radikal reduzierten Sprache« und dass es »nur wörtliche Bedeutung: keine Leerstellen, kein Geheimnis, nur dieses knochentrockene Konkrete« gebe. Genau das lobe ich mir auch. In höchsten und in tiefsten Tönen, in mittleren Lagen und auch dreidimensional vierlagig. Und doch beschleicht mich bei allem Lob, dem ich mich mindestens anschließen möchte, etwas Ungewisses. Vielleicht zu Unrecht … vielleicht aus purer Lust, der Selbstverständlichkeit dieser Euphorie ein bisschen Sand ins Getriebe zu streuen. Auf dass es ein wenig knirscht in der allzu freudigen Auf- und Annahme beim Umgang mit dem Spaß an der allgemeinen Verzweiflung.

Denn, so empfiehlt Marcel Oliver höchstpersönlich: »Jeder Anhänger hat ein Empfinden für Echtheit. Er braucht und sucht Nähe in einer Gemeinschaft. Man muss jeden ernst nehmen, so wie er ist. Ich erwarte keine Verbiegung.«

 

Carsten Klook (Kultur & Gespenster Nr. 2, 2006)

 

Michael Stauffer: Normal – Vereinigung für normales Glück, urs engeler editor 2006, 80 Seiten, 14 Euro

 

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