24. Oktober 2006

Ein bisschen kitschig, aber göttlich

 

Wie viele Male fängt dieser „Roman“ an, wie viele Rahmen lässt der Leser hinter sich, bevor… ja bevor was eigentlich, bevor die Lektüre wieder an ihrem Anfang angekommen ist. Gourmont entfaltet ein wunderbares ornamentales Schachtelwerk, ohne allerdings das von André Gide ein paar Jahre zuvor so genannte Prinzip der „mise-en-abyme“ in Anspruch zu nehmen, obwohl der Leser allen Grund hätte, diesem seltsamen Text ein solches zu unterlegen, wird er doch gleich am Anfang der Binnenerzählung von „Une Nuit au Luxembourg“ mit der Abbildung einer Münze konfrontiert, die den Leser daran erinnern könnte, dass es ebenfalls eine Münze war, deren seltsame Abbildung einer „in den Abgrund geworfenen“ Gestalt, die sich in einer Art Reflexion verdoppelt, Gide allererst auf die Idee brachte, verschiedene Phänomene der von ihm in Literatur und Kunst beobachteten verschachtelnden Rahmung auf jenen Namen zu bringen. Am Anfang des Romans ist ein Toter, ein französischer Journalist mit dem wie aus einem Groschenroman stammenden Namen James-Sandy Rose wird von einem mit ihm befreundet gewesenen Nachbarn, dem Herausgeber dieses „Romans“, tot in seiner Wohnung aufgefunden. Hat man ihn ermordet, war es vielleicht eine Frau, oder ist er einfach so gestorben, verursacht durch was auch immer? Der Nachbar findet ein Manuskript auf dem Schreibtisch, an dem der Journalist noch bis zu seinem Tod geschrieben zu haben scheint. (Die letzte Seite des Manuskripts findet der Leser am Ende des Romans als Faksimile; eine Art mysteriöses Gegenstück zu der am Anfang abgedruckten, nicht weniger mysteriösen Münze, auf der unter anderem die (griechischen) Buchstaben KORE zu lesen sind, die eine seltsame Figur umstellen.) Wird das Manuskript Aufklärung bringen über den unerklärlichen Tod von J.-Sammy Rose? Über den magischen Beginn des Manuskripts, mit dem „Une Nuit au Luxembourg“ „eigentlich“ anfängt, vergisst man augenblicklich den Tod des Journalisten. Eine andere Wirklichkeit hebt an, mit dem ersten Satz, den man liest. So, sagt sich vielleicht der Leser, muss Literatur sein. Etwas unendlich Wertvolles scheint sich ereignet zu haben, wovon der Erzähler Rechenschaft ablegen wird. Vielleicht so etwas wie das Eintauchen in eine bacchische Nacht, der Erzähler ist nicht allein, „sie ist da“. Wer ist „sie“? Bevor es richtig losgeht, teilt Rose mit, dass eine Kurzversion seines Abenteuers am kommenden Tag im „Northern Atlantic Herald“ erscheinen wird, aber dass er noch schreiben müsse, „aus Lust“, an dem, was die Langversion sein wird, diejenige natürlich , die der Leser vor sich hat. Ein seltsames Lichtspektakel, das der Erzähler mit seinem wohl ganz korrekt arbeitenden Verständnis von untergehenden Sonnen nicht in Einklang bringen kann, lockt ihn aus seinem am Jardin du Luxembourg in der rue de Médicis gelegenen Haus. In der Kirche, um die herum sich das übernatürliche Lichtspiel zugetragen hat, stößt der Journalist auf einen Mann, den er nicht kennt und der ihn dazu einlädt, mit ihm im Luxembourg spazieren zu gehen. Dieser Mann ist nicht der Pfarrer, so viel ist klar bei der nun einsetzenden atmosphärischen Stimmung, die den Leser glauben machen könnte, ein paar Seiten lang zumindest, Zeuge dessen zu sein, wie der Erzähler, bewusst oder unbewusst, es unternimmt, die Abbildung eines Gemäldes des symbolistischen Malers Maurice Denis in Bewegung zu setzen. Das ist sehr seltsam und man hat wirklich den Eindruck, mit einem Mal in eine Vergangenheit versetzt zu werden, deren quasi-religiöse Patina man in erster Linie mit Kitsch in Zusammenhang bringt. Und doch weiß der Leser, dass das nicht das letzte Wort gewesen sein wird, auch nicht die letzte Stimmung, deren religiöse Grundierung bald von ähnlichen und doch ganz anderen Schichten überdeckt wird. Die Ablösung der charismatischen Figur, die natürlich an Christus denken lässt, passiert unmerklich, aber irgendwann steht es schwarz auf weiß vor dem Leser, dass er es hier mit den „Bekenntnissen eines Gottes“ zu tun hat. Dass es nicht der christliche oder jüdische sein kann, wird insofern schon recht bald signalisiert, als die beiden Männer nicht lange allein bleiben, denn es gesellen sich drei Frauen zu ihnen, von deren Übernatürlichkeit der Erzähler bald auch aufgeklärt wird. James-Sandy Rose ist also in fantastischer Gesellschaft, aber der liebe Gott (es ist nur einer von etwa zwei- bis dreitausend, wie der gute Mann später sagt) hat vor allem Grund zur Klage, dass die Menschen die Fähigkeit verloren hätten, ihr Leben, wie einstmals Epikur, zu genießen, anstatt wie jetzt wie die gehorsamsten aller „Haustiere“ den Proselyten machenden „Direktoren des Gewissens“ zu folgen, die kostbare Gegenwart einer unsicheren Zukunft opfernd oder ständig mit dem Stachel des schlechten Gewissens bewehrt. Nietzsche, ja, der Name fällt zwar nicht, aber natürlich ist auch Gourmont bzw. seinem Gott aufgefallen, dass das Leben nicht mehr lebt, seit das Christentum zugeschlagen hat. Hat die Mythologie, wie hier in dieser Geschichte vorgeführt, noch einmal eine Chance? Oder: Wie setzt Rose die schöne diskrete Formel des Gottes um, wonach es im Leben darum gehe, „sein Leben zu leben“ und nicht das anderer? Der Gott überlässt Sammy Rose eine der Grazien oder Göttinnen, die sich in ihn verliebt hatte, und es ist ebendiese Göttin, die, wie es am Anfang hieß, „da ist“, aber nach dem Tod des Erzählers nicht mehr. Göttlicher Sex muss sich zugetragen haben, so viel ist klar, aber, Ironie der Geschichte, zugrunde gegangen ist Sammy nicht daran, sondern am Schreiben oder, wie es der diagnostizierende Arzt lakonisch bemerkt: „Sexuelle Exzesse, gefolgt von Hirnexzessen.“ Man kann diesen wunderbaren Roman auch gut als Parodie auf Texte von de Sade lesen (zum Beispiel „Die Philosophie im Boudoir“ oder, ganz krass, „Justine“) – von dem Gourmont, wie er andernorts bekennt, gar nichts hält –, deren rigide Abfolge von Beschreibungen unmenschlichster Qualen und diese mittels „philosophischer“ Betrachtungen rechtfertigenden Dialoge Gourmont sanft umsetzt in nostalgisch-kritische Anmerkungen eines Gottes, die immer mal wieder unterbrochen werden von den vor allem floral grundierten Handlungen der drei Grazien. Diese Nacht ist sehr zu empfehlen.

 

Dieter Wenk (10.06)

 

Remy de Gourmont, Une Nuit au Luxembourg. Roman, Paris 1925 (Mercure de France)