24. Oktober 2006

Am Ende eines Jahrhunderts

 

Der Titel dieser in vier separaten Bänden erschienenen „Betrachtungen über das Leben“, dessen erster Band diverse Ereignisse aus den Jahren 1895-1898 glossiert und kommentiert, könnte dazu verleiten zu meinen, man habe es hier mit einem typischen Produkt aus der Zeit der décadence am Ende des 19. Jahrhunderts zu tun. Die literarischen Allianzen und Gegnerschaften, die sich beim Durchblättern leicht erkennen lassen, scheinen den ersten Eindruck zu bestätigen: Gourmont findet man nicht in den Annalen des Progressismus wie etwa Zola, sondern auf der Seite von Huysmans, Verlaine, Mallarmé, aber dann eben auch Ibsens. Für Sarah Bernhardt kann er sich gar nicht erwärmen, und die Religion, besonders natürlich der Katholizismus, die letzte Ruhestätte der décadents, ist für ihn nicht attraktiv, einfach weil die religiöse Literatur, so Gourmont, tot sei. Man merkt es den zwischen ein paar Zeilen und zehn Seiten langen Texten an, dass hier einer schreibt, der eher selber einteilen möchte, als in bestimmte Fächer rubriziert zu werden. Das lässt ihn manchmal besserwisserisch erscheinen, aber der scheinbar erhöhte Standpunkt hat den Vorteil, dass sich die Dinge dadurch nicht nur besser einteilen, sondern sich in ihrer Eigenbewegung adäquater beschreiben lassen. Gourmont hat also auch einen Blick für das, was da noch kommen mag, völlig unabhängig davon, was das für die Gegenwart oder die entsprechende Zukunft bedeuten mag, etwa das Erwachen Chinas, dessen spätere Präsenz die Jetztzeit vielleicht zu einer Marginalie des Geschichtsverlaufs machen würde. Gourmont rechnet noch nicht, wie Benn, mit den Beständen, aber er macht sich auf alles gefasst. Der Ton der Texte ist denn auch weniger kritisch als lakonisch, manchmal auch arrogant, was André Gide verärgert hat. Ein großer Teil der Texte ist ohne nähere Explikation der Zeitumstände nicht verständlich, aber man merkt immer wieder, wie manche Sachverhalte anscheinend nie ihre Problematik verlieren, egal in welcher Zeit man auf sie stößt, wie etwa die Frage des literarischen Eigentums, angesichts derer sich schon Gourmont die Haare gerauft hat ob der exzessiven Macht der „Witwen“, die damals fünfzig Jahre lang ihren Arsch nicht von den Produkten ihrer Autorenmänner zu erheben brauchten, bevor endlich die Werke wieder Gemeineigentum wurden, für viele Autoren viel zu spät, nicht jeder hat das Zeug zum Klassiker. Natürlich hat Gourmont auch zur Dreyfus-Affäre Stellung genommen, ohne jedoch wirklich Stellung zu beziehen. Für ihn war nur klar, dass die Angelegenheit hoch gespielt wurde aus dem einzigen Grund, weil Dreyfus Jude war. Ohne dieses Faktum hätte sich niemand für ihn interessiert. Gourmont merkt zwar selbst, auf was für heiklem Boden er sich bewegt, wenn er Begriffe wie Rasse ins Spiel bringt, die letztlich überhaupt nichts klären, aber er ist, wie viele andere seiner Zeit, nicht frei von dem Vokabular. So sagt er, er sei kein Antisemit, aber auch kein Freund der „Israeliten“. Der Kapitalismus, das wird kurz angedeutet, habe jüdischen Hintergrund. Im nächsten kleinen Essay ist dann schon wieder von Hundenamen die Rede, die ihn dazu veranlassen, über eine mögliche Geschichte der Menschheit im Hinblick auf die Vergabe von Namen für des Menschen liebste Begleiter nachzudenken, denn schon Gourmont war aufgefallen, dass das Herrchen seinen Hund gerne mit dem Namen seines Todfeindes beehrt. Die zeitgenössische Kombination „Flatz-Hitler“ kann aus dieser Perspektive also nicht mehr so recht schockieren. Insgesamt tritt der Autor sehr abgeklärt auf, und es verwundert nicht, dass wahre Freiheit für ihn darin besteht, gegensätzliche Meinungen nicht nur zuzulassen, sondern zu lieben. Die „Epiloge“ gehen deshalb immer weiter.

 

Dieter Wenk (10.06)

 

Remy de Gourmont, Épilogues. Réflexions sur la vie – 1895-1898, Paris 1921 (Mercure de France)