20. Oktober 2006

Bitte vergessen

 

Ein wichtiger Unterschied in der Vorgehensweise von Léon Bloy in der „Auslegung der Gemeinplätze“ und von Flaubert im „Wörterbuch der Gemeinplätze“ besteht darin, dass bei Bloy ein armer und zorniger Jesus die Feder führt, bei Flaubert dagegen die Gemeinplätze sich wie von selbst vorführen – einmal ganz abgesehen von der Ausführlichkeit Bloys und der Stichworthaftigkeit Flauberts. Angriffsziel bei beiden ist der Bürger. Bloy konfrontiert den Bürger mit einem ihm fremden Ideal (daran scheitert Bloys Versuch), Flaubert ist einfacher und raffinierter zugleich, indem er bloß das, was es sowieso schon gibt, noch einmal präsentiert, diesmal aber aus dem Zusammenhang gerissen. Das ist ein Verfahren, wie man es später wieder bei Duchamp und Brecht treffen wird. Flaubert hatte fleißig gesammelt, über tausend Gemeinplätze liegen vor, die eigentlich in den unvollendeten „Bouvard und Pécuchet“ eingehen sollten. In der fragmentarischen Form liest sich das „Dictionnaire“ wie ein auf den Kopf gestellter „Knigge“. Die Ratschläge und Empfehlungen, die der Freiherr zum Bestehen in Gesellschaft gibt, haben sich hinsichtlich des erwünschten Effekts bei Flaubert in ihr Gegenteil verkehrt. Die Befolgung des „Knigge“ gibt einem formvollendetes Auftreten, die des „Flaubert“ würde einen völlig deklassieren. Woher kommt der Unterschied? Knigge macht sich nichts aus der Wiederholung als solcher, im Gegenteil, Wiederholung ist Form ist Klasse ist Beherrschung ist Souveränität. Die Kunst der Konversation hat es genau darauf abgesehen. Wer Flauberts Wörterbuch befolgt, wer es wiederholt, hat selber schuld, denn sehr wahrscheinlich hat er es gar nicht gelesen, weil er es schon selbst geworden ist. Es ist der Papagei, der einem aus dem Wörterbuch entgegenschaut. Es ist der Automatismus, der einem in die Augen fallen müsste, sollte man wirklich hineinschauen, denn wenn man es getan hat, hat das Buch seinen Zweck erfüllt, es hat sich selbst unmöglich gemacht. Man kann es nur gebrauchen, indem man es nicht gebraucht. Es ist ein Gebrauchsverhinderungsbuch. Hier trifft sich Flaubert wieder mit Bloy. Auch dieser wollte den Bürger zum Schweigen bringen. Aber während Bloy seinem Leser ein anderes Terrain anbietet – ein radikal verstandenes Christentum –, geht man bei Flaubert leer aus, genauer gesagt, man muss sich jetzt selbst etwas überlegen, weil die überkommene konversationelle Münze nichts mehr trägt. Flaubert, und andere mit und nach ihm, hofften auf Reinigung. Man wollte die Dummheit aus der Welt schaffen. Wenn man aber heute Wörterbücher wie Henscheids „Dummdeutsch“ in die Hand nimmt, ahnt man, dass keiner Zeit ihr Wörterbuch erspart bleibt und dass das Wörterbuch selbst ein Element der Wiederholung ist, gegen die es sich kritisch wendet. Die Plätze sind alle schon da und sie werden lediglich jeweils neu besetzt. Jeder hat seine Vorgänger, gegenüber denen man ein Papagei ist. Bloy ist der zornige Papagei Jesus’, Flaubert der kritische der Altherrenkonversation, Karl Kraus der Flauberts („das richtige Wort“) – wie auch immer, Wörterbuch und Gemeinplatz werden nie aufhören, aber immer mehr wird aufhören, dass das ein Problem ist. Denn was vor dem Vornamen kommt, weiß wirklich keiner.

 

Dieter Wenk (08.02)

 

Gustave Flaubert, Das Wörterbuch der Gemeinplätze, Zürich 2002 (Haffmans)