18. Oktober 2006

Tacheles auf hoher See

 

Die Welt ist dazu da, immer neu zusammengesetzt zu werden. Ob man selbst Interesse daran hat, hängt davon ab, wo man steht. Klemmen oder abklemmen. Argumente nehmen nicht in jedem Fall den Umweg über den verbalen Filter, und wenn doch, muss man dann selbst prüfen, in welcher Interessensgemeinschaft das Argument sich gerade aufhält. Dazu hat man meist nicht hinreichend Zeit, außerdem grüßen die entscheidenden Archive mit Zugriffsverweigerung. Wer sich also Psychodramen anschaut, sollte nicht zu schnell urteilen, weil er vermutlich rascher die Seite wechseln müsste, als ihm lieb ist. Die relativ stabile Ausgangssituation dieses Urlaubsfilms fasst die Formel zwei plus zwei zusammen. Miriam und André verbringen entspannte Tage mit Segeln und lockerer geistiger Tätigkeit in ihrem schönen Urlaubshaus an der Ostsee. Mit im Boot sind ihr Sohn Nils (15) und dessen Freundin Livia (12), die aber eher aussieht wie fünfzehneinhalb. Gleich am Anfang des Films sprechen die Eltern über die Frühreife des Mädchens. Haben sie das erst jetzt entdeckt? Oder sind die Kids noch nicht so lang zusammen? Schneller, als man diese Fragen beantworten kann, wird das Quartett aufgemischt. Dazu gibt es die Figur des Fremden. Er heißt Bill, hat anscheinend viel Geld, sieht gut aus und ist nicht blöde. Das ist nicht die schlechteste Kombination für Männer. Auf jeden Fall ist Nils ein generöser Freund, der es Bill erlaubt, zusammen mit seiner, also Nils’ Braut, segeln zu gehen. Vater André sieht das zunächst recht pragmatisch und denkt als erstes an sein Schiff, das ja kaputt gehen könnte. Mutter Miriam trägt, so denkt sie, die Verantwortung für Livia, also für ihre Unschuld, falls sie sie noch haben sollte. Und vielleicht ist Nils ja ganz froh, nicht als erster ran zu müssen? Als Miriam nach dem rechten schaut und dem entfernten Nachbarn Bill einen Besuch abstatten möchte, ist dieser zwar da, aber Livia ist fort. Ein Verbrechen? Gar ein Mord? Man wird aus Bill nicht schlau, obwohl er einem nicht unsympathisch ist, auf jeden Fall sympathischer als die Tatort-sehen-Erfahrene Miriam, die mit dem Schlimmsten rechnet. Dabei ist Bill die unglückliche Figur, die Trost braucht. Er hat nämlich die letzten Jahre seines Lebens in den Staaten verbracht, wo ihn die Leute, mit denen er zu tun hatte, völlig fertig gemacht haben (Geld, Geld, Geld). Bill ist sensibel (sein Vater war Deutscher), und das Segeln mit Livia hat ihn wieder den Lebenden zurückgegeben. Alles Platonismus also? Oder der Beginn einer nymphomatischen Beziehung à la Humbert Humbert? Oder der Anfang einer seriellen Infektion à la Pasolini? Tatsächlich scheint es „teorematisch“ weiterzugehen. Denn schon bald sieht man Miriam im Bette des Fremden. Aber das täuscht. Denn alles spricht dafür, dass Miriam mehr will, während Bill ganz woanders steckt. Außerdem sind Nils und André immun. So viel mythologischen Wahnsinn leistet sich Krohmer nicht. Nachdem also die beiden das Quartett bildenden Dyaden auseinander gebrochen sind, beherrscht Latenz das weitere Geschehen. Also Spannung. Wie wird es weitergehen? Zieht sich Bill ganz zurück? Nach einem Schäferstündchen mit Miriam bekennt Bill ihr gegenüber, dass er Livia liebt. Eine Zwölfjährige als Konkurrentin, das ist hart. Das Gute bei Kindern ist ja, dass man mit ihnen nicht diskutieren muss. Ein Befehl, und dann ist Schluss. Trotzdem kann man von vernünftigen Erwachsenen fordern, dass sie den richtigen Zeitpunkt und ein angenehmes Ambiente für eine Situation finden, die halt durchgezogen werden muss. Miriam ist dazu nicht in der Lage. Zu involviert. Ausgerechnet beim Segeln mit ordentlich Wind will sie mit Livia sprechen, unter vier Augen. Nur der Wind war Zeuge. Ein Unglück geschieht. Einen Tag später sieht man die Kleinfamilie im Krankenhaus, und die Rede ist von Beerdigung. Livia ist tot, der Weg frei. Aber Bill will lieber allein sein und hat keine Lust auf Miriam. Das ist natürlich keine gute Schlusspointe für einen Film. An dessen Ende steht wieder ein Quartett. Jetzt sind es Bill und Miriam (dann doch), sowie die Mutter Livias und ihr Mann, der ihr Großvater sein könnte. Die Szene spielt sich in einem amerikanischen Hotel ab. Livias Mutter möchte den beiden aus einem Brief Livias vorlesen. Fast gelingt es nicht, so erschüttert ist die Mutter von der Erinnerung an ihre Tochter. Der Brief zeugt von der Intelligenz und der Experimentierfreude Livias und ihrem Plan, zwei Menschen glücklich zu machen. Nun, der Plan scheint umgesetzt, Miriam und Bill sind zusammen. Wie hat Livia das bloß gemacht? Oder sind am Ende Bill und Miriam gar nicht – glücklich?

 

Dieter Wenk (08.06)

 

Stefan Krohmer, Sommer ’04, D 2006, Martina Gedeck, Robert Seeliger, Peter Davor, Svea Lohde, Lucas Kotaranin