18. Oktober 2006

Von aussterbenden Haltungen

 

Sarkasmus ist eine Verhaltensweise, die heutzutage ausgestorben ist. Man stößt auf Ironiker, Zyniker, Satiriker, Humoristen, aber „Sarkastiker“ sind unbekannte Wesen, die weder Wahrig noch Duden verzeichnen. Wie kommt es, dass aus der Fruchtschüssel der Überheblichkeiten gerade das sarkastische Element auf den Hund gekommen ist? Denn wie sollte ihm an Biss fehlen, wo Sarkasmus die Fleischhaftigkeit selbst ist. Vielleicht liegt es daran, dass das Fleisch fehlt, das zerfleischt werden kann. Den alten Pygmalion jedenfalls müssen wir uns als Elegiker vorstellen, dem beinahe das Herz daran zerbrach, dass die schöne Statue, die er geschaffen hatte, nur aus Elfenbein und nicht aus Fleisch und Blut war. Aber weil es damals noch Götter gab, wurde er erhört, und das Kunstwerk ward zum weiblichen Wesen. Oscar Wilde hat diesen Mythos dann auf den Kopf gestellt, indem er die Verwandlung des Dorian Gray an das Portrait delegierte. Das war dann gleichzeitig die Geburt des Expressionismus aus dem Ästhetizismus. Mit Shaw hat dieser Mythos den Alltag erreicht. Aus Schöpfung wird Erziehung, aus Schönheit Funktionalität. Das ist die auch heute noch nachvollziehbare Seite dieses Theaterstücks, das 1913 im Wiener Burgtheater uraufgeführt wurde. Während zu dieser Zeit gerade Narziss auf Freuds Couch liegt, führt Shaw den Coach ein, der genau weiß, was der andere braucht und der vor allem in der Lage ist, das diesem relativ schnell beizubringen. Die Rolle des Pygmalion spielt hier zunächst ein Professor der Phonetik, der darauf wettet, innerhalb von sechs Monaten aus einer Blumenverkäuferin eine Herzogin machen zu können. Gegen solche Geschwindigkeitsexzesse hat Freuds unendliche Analyse natürlich keine Chance, vor allem dann nicht, wenn sie, wie hier, kein bloßes Versprechen bleiben. Aber selbstverständlich gibt es auch hier ein Problem: Zwar artikuliert das Mädel jetzt brillant, und es vermag unbeabsichtigterweise sogar einen neuen Ton in der Konversation älterer Damen und Herren zu etablieren, allein das Fleisch – ihres – ist so unwillig – dem Professor gegenüber – wie zuvor. Man muss sich diesen Professor als asexuelles Wesen vorstellen, der sich an seine Mutter anlehnt und für den Frauen nur als andere Mütter vorkommen. Dieser Fleischentzug macht aus ihm ein sarkastisches Wesen, dem man freiwillig kaum zuhören mag und dessen Art nicht nur sein herzogliches Produkt skandalisiert. Dieser Typ ist unerträglich, er tut weh mit dem, was er sagt, und wenn er über seine Unleidlichkeit sich selbst den Segen spricht, da er seine Natur nicht ändern könne und seine Manieren nicht ändern wolle, wissen wir, dass dieser Coach selbst ganz dringend auf die Couch muss. Wenn eine solche Mobilitätsschwäche und Anpassungsverweigerung mit zum sarkastischen Typus gehört, der Hohn spricht und selbst ein Arschloch ist, dann ist klar, dass es heute schwer fällt, eine Haltung wiederzubeleben, die noch nicht mal in einer Unterhaltungsnische funktioniert. Das ist Fortschritt.

 

Dieter Wenk (07.02)

 

George Bernard Shaw, Pygmalion. Komödie, übersetzt von Siegfried Trebitsch, Stuttgart 1962 (Reclam)