16. Oktober 2006

Einsichten um 1900

 

Dass der Traum eine Wunscherfüllung sei, ist eine allerspäteste Erfindung des 19. Jahrhunderts, die deren Macher schlauerweise und aus Gründen der Prinzipienbildung auf den Anfang des nachfolgenden Jahrhunderts datierte, ohne verhindern zu können, dass nur zwei Jahre später, 1902, mit den eben erst inventarisierten Mitteln der Traumbildung ein Autor den Beweis antrat, dass die Wirklichkeit „verglichen mit dem schmerzhaften Traum … doch ein Ergötzen ist.“ Dabei ist Strindbergs Stück alles andere als ein dramatisierter Albtraum. Dafür ist es zu episodenhaft, und die Dreiaktigkeit könnte eine Spannung suggerieren, die sich aber von Anfang an ganz von selbst absetzt. Es gibt keinen Paukenschlag am Ende des Traums, denn das Stück ist ein einziger Kommentar zu dem Lamento, dass es schade sei um die Menschen. Strindbergs Geschlechterkampf ist vorbei, die Malaise sitzt leider noch tiefer. Ob man auf dem „Strand der Schande“ sein Dasein verbringt oder in der „Schönen Bucht“, gleichviel, letztere ist nicht weniger servil, hässlich und absurd. Walzer werden dort unbarmherzig von Bach’schen Toccatas vertrieben, und hässliche Menschen sind dort genauso hässlich wie anderswo auch. In einer sehr schönen kleinen Szene laufen die Gesetze der Logik auf dem Strand der Analogiebildung auf, was dazu führt, dass der Lehrer mit seinen Schülern erst mal baden geht. Indras Tochter, ein halb-göttliches, halb-menschliches Wesen, kommt aus dem Staunen nicht mehr heraus; alles, was ihr von ihren drei männlichen Begleitern, dem Offizier, dem Advokaten und dem Dichter, vorgeführt wird, zeigt unter der hauchdünnen Oberfläche die prompte und rücksichtslose Desillusionierung. Das Glück lässt sich nicht festhalten, und der Mensch, der in diesen Gefilden am besten beneidet wird, ist ein blinder Mann, der eine so traurige Geschichte erzählt wie die Großmutter in Büchners „Woyzeck“. Kein Wunder, dass die materialistische Analyse des Advokaten nach Anhörung der Kohlenträger (nicht die Menschheit ist schlecht, sondern die Art, in der sie gelenkt wird) in der schönen Seele Indra keine zweite Jeanne d’Arc mobilisieren kann. Immerhin will sie später eine Bittschrift des Dichters in den göttlichen Etagen vortragen. Ob das aber irgendwie fruchten kann, ist sehr die Frage, denn was sich in einer späteren Szene die Dekane der vier Fakultäten an den Kopf werfen, ist sehr amüsant, gibt aber keinen Grund zur Hoffnung. Der Advokat nennt das oft nicht so richtig ernst genommene Widerspenstige „die kleinen Disharmonien des Lebens“, all das also, was in den gängigen heroischen Lebensberichten des Alltags herausgefiltert wird, weil es stört und nicht in das Bild passt, das uns mit unseren kleinen Paradiesen verbindet. Das Paradies heißt aber nur so, eine Zone in den Wortgefilden, in denen sich der Mensch ganz gut auskennt. Der Traum erinnert an die angebliche Vorgängigkeit dieser schwundstufigen Verballhornung, das ist seine Hölle. Die Wirklichkeit dagegen ist voller Schlafwandelei. Wo man auch ist, man wacht eigentlich nie richtig auf. Auch Strindberg deckt uns am Ende des Traums mit einer „Riesenchrysantheme“ zu. Chrysanthemen sind auch als Wucherblumen bekannt. Ein netter Unterstand. Ein seltsam schönes Theaterstück.

 

Dieter Wenk (07.02)

 

August Strindberg, Ein Traumspiel, in: Meisterdramen, München 1981 (dtv weltliteratur)