14. Oktober 2006

Ein dickes Missverständnis

 

Sollte Ihre Lust auf Skandal, Ihre vielleicht jetzt erst so richtig zum Ausbruch gekommene Abneigung gegen Political Correctness, Ihre raffinierte Sensibilität fürs Gröbere und Gemeine noch nicht so recht befriedigt worden sein während der letzten Wochen literaturkritischer Exegese, so bietet Ihnen obiger Autor das zweifelsfreie Vergnügen, als echter Kotzbrocken gereicht werden zu können. Bloy hat die ästhetisch unverzeihliche Sünde begangen, Literatur und Religion so miteinander zu verbinden, dass sie gewissermaßen als ein großer Kampfhund dem sehr schnell ungeneigten Leser die Ohren zubellen. Als Christ ist Bloy Terrorist, als Literat Pamphletist. Den zweiten würde man gerne goutieren wollen, alleine der erste schlägt gleich alles kaputt. Man hat keine Chance, den synthetischen Hund wieder zu halbieren, und das ist wirklich zum kotzen. Die Lehre Bloys ist erschreckend – wie soll man sagen: banal?, oder eher: falsch?, oder einfach blöde und dumm? Die Lehre lautet schlicht: Der Bürger muss wieder glauben. Die Diagnose: Der Bürger nimmt das Evangelium nicht ernst. Das zu Grunde liegende Axiom: Jesus ist die Wahrheit. Die Medikation: Der Bürger muss wieder Angst bekommen vor dem Jüngsten Gericht. Léon Bloy hat die wissenschaftlich leider nicht nachprüfbare Erfahrung gemacht, auserwählt worden zu sein. Mindestens als Prophet. Das, was man an ihm nicht hinunterschlucken kann – und das ist leider alles –, ist die Selbstverständlichkeit seiner religiösen Empfehlung, die natürlich nichts anderes ist als ein Diktat. Dass die Sache von vornherein in den Wind geschrieben ist, macht sie wiederum anrührend, nachdem man den Fehler im System entdeckt und sich dadurch ästhetisch immunisiert hat. Das ist natürlich das letzte, was sich Léon Bloy gewünscht hätte, aber nur in dieser absoluten Verteilung funktioniert die Kontaktaufnahme mit diesem Autor. Man kann ihn nicht schmecken, man kann ihn nur begreifen. Was ganz einfach ist. Aus einer Anfangsunterscheidung ergibt sich alles weitere. Der Bürger glaubt nicht, also hat er insgesamt Unrecht. Der Bürger ist ein Gotteshausbesetzer, womit nicht unbedingt Kirchen gemeint sind. Er agiert respektlos. Die Tradition wird nicht ungeprüft hingenommen. Der Bürger ahmt die unerschöpfliche Wirklichkeit immerhin dadurch nach, dass er verschiedene Schubladen bildet, die ihm anzeigen, dass nicht alles über einen Kamm geschoren werden kann, der auch nur zu einem bestimmten Preis zu haben wäre. Auf diese Differenzierung, die Bloy nicht sieht, möchte man ihn als Leser immer wieder aufmerksam machen, aber das geht leider nicht, weil es einem ständig hochkommt. Es ist wirklich nicht schön, was sich bei dieser Lektüre ansammelt, die gebrochenen Buchstaben wirken ansteckend, und das einzige, was man tun kann, ist, den Reizauslöser so gut es geht zu vermeiden. Nur weil etwas zwischen zwei Buchdeckeln steckt, heißt das noch lange nicht, dass man es nicht noch ein zweites Mal anschwärzen soll. Und manche Gaben, um einmal ein schöneres Wort zu verwenden, sind eh nur für den Gebenden bestimmt. Wer dabei keinen Schnitt machen kann, braucht sich nicht zu beklagen.

 

Dieter Wenk (07.02)

 

Léon Bloy, Auslegung der Gemeinplätze, Frankfurt am Main 1995 (Eichborn)