13. Oktober 2006

Was ’89 noch passierte

 

Was-wäre-wenn-Geschichten haben ihren Reiz. Wie sähe die Welt aus, wenn Kleopatra sich Oktavian hätte gefügig machen können. Wenn Luther Rom erobert hätte. Oder Amerika eine transatlantische Sowjetrepublik wäre. Im Moment des Geschehens scheint viel möglich. Im Moment, wo die Historiker ihre Bücher vorlegen, sieht alles ganz anders, viel determinierter aus. Und gegen diese Geschichte anzuschreiben, ist nicht einfach. Was also hat Jörg-Uwe Albig daran interessiert, 1989 die Revolution nicht in der DDR, sondern in der Bundesrepublik stattfinden zu lassen? Zwar begleitet von ähnlichen Symptomen wie Montagsdemonstrationen, aber auf andere Ausgangsbedingungen wie Arbeitslosigkeit reagierend. Und was war zur gleichen Zeit in der DDR los? Häme? Schadenfreude? Ein qualitativer Sprung auf dem Weg zur Selbstverwirklichung des Sozialismus? Die DDR lässt Albig in Ruhe. Schade eigentlich, denn gerne hätte man gelesen, wie Albig sich dieser Sprache angenommen hätte im Augenblick ihres Triumphes. Aber auch, was die westlichen Empfindlichkeiten und Generalbasslinien bundesrepublikanischer Stimmung angeht, bleibt der Leser ungesättigt. Es fehlt ein nachvollziehbares Gesamtszenario, aus dem heraus etwas, also die Revolution, passiert wäre. Dazu hält sich Albig zu sehr im sprachverliebten Detail auf. Und glaubt, die Stimmung anhand der impressionistischen Rückschau der Hauptfigur im Zusammenhang mit drei seiner Arbeitskollegen repräsentieren zu können. Diese Interaktionen würden aber auch plausibel sein ohne die Arbeitshypothese der Revolution. Die stört nur, weil man nicht weiß, auf welchem Level man sie ansetzen soll. Irgendein Zwischenglied fehlt, das den Figuren den Hauch der Geschichte einblasen würde. „Land voller Liebe“ beginnt aber auf einem ganz anderen Gleis. Der Protagonist und Ich-Erzähler Roger Beeskow reist im Herbst 1989 in die Karibik, um als Unternehmensberater beim Aufbau einer Firma zu helfen. Die Sache verläuft recht schnell ganz wörtlich im Sand. Dann kommen die Nachrichten aus Deutschland und die Erinnerungen an frühere Tätigkeiten sowie Bemühungen, eine eingefahrene Ehe im Fernsteuer-Modus zu lenken. Man merkt bald, dass die Geschichten und die Geschichte nicht im Vordergrund des Romans stehen. Der wirkliche Held dieses Romans ist die Sprache. Auf den ersten fünfzig Seiten glaubt man, ein interessantes Buch zu lesen, dessen Methodik herkömmlichen Verfahren diametral entgegensteht. Albig ist in seinen besten Momenten ein Künstler des Schwebens und des Einbruchs. Am deutlichsten ist das an seinen Dialogen abzulesen, die keine sind, sondern Ausfälle aus diesen. Es erinnert ein bisschen an Joseph Conrads „Geheimagent“, wo hier und da die Gedanken der Figuren unterbrochen und durch Beschreibungen aufgehoben werden. Dann denken die Figuren weiter, und der Leser fragt sich vielleicht, wo er die Figur zurückgelassen hat. Albig radikalisiert dieses Verfahren, indem er einfach nur noch einzelne Sätze gibt. Das liest sich anfangs ganz gut, weil ein bisschen geheimnisvoll, aber je weiter man liest, desto leerer wird das Verfahren. Es steigert dann auch nicht mehr die Coolheitsrate. Es ist ein Trick, und der Satz fällt durch. Albig will gut schreiben, und nicht selten wird es ziemlich maniriert. Das liest sich dann wie (schlechter) Bataille: „Als sie [eine weibliche Figur] Stankowski sah, öffnete sie ein Auge in der Farbe ihrer Haut.“ Es ist dieser Überrealismus, der die Leserschaft spalten wird in Freunde und Gegner. Manche der Figuren bleiben blass bis zum Ende, sie haben kein Eigenleben, sind möglicherweise gleich als Chiffren angesetzt im apostrophierten Desaster, das sich in Deutschland breit macht. Eine seltsame Figur ist ein kleiner karibischer Junge, der dem Protagonisten ständig übel mitspielt, ihn beklaut, und doch sein Herz gewinnt. Vielleicht hat diese Beziehung etwas mit der Liebe zu tun, von der der Titel spricht. Aber diese Liebe ist unbegreiflich. Man weiß nicht, von welcher Liebe Albig spricht, und man weiß nicht, von welchem Land. Ein seltsames Buch, das einen ratlos zurücklässt.

 

Dieter Wenk (08.06)

 

Jörg-Uwe Albig, Land voller Liebe. Roman, Berlin 2006 (Tropen), Trojanische Pferde 19