2. Oktober 2006

Warten auf den Zusammenbruch

 

Individualität ist das bestverteilte Gut der Welt. Nur merkt man sie den Leuten nicht immer gleich an. Sie scheinen sie sogar eher verbergen zu wollen, aus welchen Gründen auch immer. Dass 5000 Leute nackt am gleichen Strand liegen, spricht nicht gegen sie. Nicht gegen die Leute, und auch nicht gegen die Individualität. Wollte man Guy Debord strikt psychologisch lesen – und er lädt selbst dazu ein –, würde man sehen, dass Debord, dieser notorische Schwarzseher, eine sehr hohe Meinung von den Menschen hat. Wenn sie könnten, wie sie wollten, würden sie viel mehr herauslassen, als was sie im Alltag sehen lassen. Allein sie schämen sich, ihre wahren Bedürfnisse zu artikulieren. Aus Furcht vor Ausgrenzung machen alle mit. Beim Spektakel. Also bei der Lüge, beim „Falschen ohne Antwort“. Die beiden „Enden“ der Gesellschaft sind also dicht miteinander verbunden. Man macht unten nur das, was oben als respektabel annonciert wird. Das kann den nächsten Tag schon was ganz anderes sein. Was zählt, ist der „Medienstatus“ von Meinungen, Handlungen, Ereignissen. Nur daran lässt sich in der Gesellschaft des Spektakels anknüpfen. Wer das nicht tut, fällt aus der Gesellschaft heraus und wird zum Beispiel Penner oder Terrorist. Alle anderen funktionieren. Und zwar, wie Debord am Anfang dieses schmalen Bandes sagt, unter der „autokratischen Herrschaft der Warenökonomie, die ein Statut unverantwortlicher Souveränität erreicht hat, und der Gesamtheit der neuen Regierungstechniken, die diese Herrschaft begleiten.“ Debords „Kommentare“ sind eher episodisch und impressionistisch als kühle Analysen. Gleich zu Beginn bekennt er, dass er nicht alles sagen könne. Es ist ein Buch für die happy few, deren ausweglose linke Haltung sie zu vollendeten Paranoikern werden ließ. Denn wo viel Spektakel ist, da ist auch viel verborgen. Da, wo die Macht zusammenläuft, im „lenkenden Knoten“. Letztlich geht es also nicht so sehr um Psychologie als um Macht. Die jeweiligen Machtcliquen haben es im Lauf der Zeit immer besser verstanden, den Beherrschten das Gedächtnis auszutreiben. Aus den beiden Anfangsformen des Spektakels, dem „diffusen“ und dem „konzentrierten“, die sich auf die demokratischen bzw. totalitären Staaten in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts beziehen lassen, ist eine einzige Form geworden, das „integrierte Spektakel“, das ziemlich genau das ist, was Adorno als „Verblendungszusammenhang“ bezeichnet hat. Die Herrschaft wird aufrechterhalten nicht durch Knüppel, sondern durch Medien, vor allem in Form von Bildern, deren „Fluss“ den Beherrschten das Gefühl gibt, in einer „ständigen Gegenwart“ zu leben. Die Geschichte im Sinne eines Archivs von menschlichen Verhaltens- und Regierungsformen hat im integrierten Spektakel kein Daseinsrecht. Man braucht sie nicht, sie würde nur stören und den reibungslosen Verkehr unterbrechen. Die große Hoffnung, die Debord mit dem generalisierten Gedächtnisverlust verknüpft, besteht darin, dass das stehende Jetzt irgendwann auch mal die Herrscher selber erreiche, wie es die Theorie ja sowieso schon vorsieht. Das integrierte Spektakel würde dann eher kollabieren, an sich selbst zu Grunde gehen, als dass eine im System selbst entstehende Gegenmacht die Gesellschaft zum Einsturz brächte. Letztlich ist nämlich die Macht des integrierten Spektakels eine durchaus gespenstische, wie Debord zum Schluss durchblicken lässt. Ihr größter Widerspruch bestehe darin, dass ihre Überwachungen, Infiltrierungen, Manipulationen einer „abwesenden Partei“ gelten. Man hat es hier eher mit einer gewissen Komik zu tun, insofern sich die verschiedensten geheimen Untergruppen und Kontrollorgane gegenseitig das Terrain streitig machen, niemand auf diesem Niveau den Überblick hat und die erzielten Ergebnisse in ihrem Erkenntnisgewinn äußerst zweifelhaft sind. Wo der Feind fehlt, schafft man sich ihn nach seinem Bild. Wenn Debord in einem späteren Nachwort zu seiner 1967 veröffentlichten „Gesellschaft des Spektakels“ sagte, dass dieses Buch in der Absicht geschrieben sei, eben dieser Gesellschaft zu schaden, so lassen die „Kommentare“ beinah jeden kritischen Akzent vermissen. Diese Gesellschaft kann nur an sich selbst scheitern, bei aller technologischen Verfeinerung der Herrschaftsinstrumente wird es letztlich der menschliche Faktor gewesen sein, der zum Systemabbruch geführt haben wird. Aber man muss durchaus nicht mit Debords Integralrechnung einverstanden sein. Und wann war denn die gute alte Zeit, auf die auch Debord mit seinem dekadenztheoretischen Ansatz nicht verzichten kann? Auf jeden Fall ist eine Stelle frei geworden, die nach Ermessen jedes Einzelnen neu zu besetzen ist: Die Gesellschaft des Spektakels war definitiv nicht „das vermutlich wichtigste Ereignis“ des 20. Jahrhunderts. Die Betrachtung in Modellen ist langweilig geworden. Unsere Zeit ist, ganz unspektakulär, mezzaninisch.

 

Dieter Wenk (09.06)

 

Guy Debord, Commentaires sur la société du spectacle (1988), Paris 1992 (Gallimard)