1. Oktober 2006

Einladung zur Konstruktion

 

Jean Daives aus neun Teilen bestehende „Erzählung des Gleichgewichts“, deren vierter Teil bereits vor zwanzig Jahren bei P.O.L in Paris erschienen ist, ist keine „narration“ im herkömmlichen Sinn. Die „narration d’équilibre“ ist überhaupt kein Text im herkömmlichen Sinn. Beim Herumblättern wird dem Leser wohl als erstes das Wort Gedicht einfallen. „W“ besteht aus ca. 60 Absätzen unterschiedlicher Länge, zwischen 3 und 12 Zeilen, die ebenfalls verschieden lang sind. Abbreviatur könnte ein Schlüssel für „W“ sein, nicht des Verständnisses, sondern zunächst des Bauprinzips. Der abgeschlossene Satz ist nicht die Regel in diesem Text. Aber der Eindruck würde trügen, dass es hier um Satzzertrümmerung im Sinne der Absurden ginge. Man steht, ohne dass man es bewusst merkt, von Anfang an auf der anderen Seite, der eines irgendwie zu erwartenden Aufbaus eines Komplexes, dessen Logik der Leser zu erraten suchen wird. Daive macht es dem Leser leicht und schwer, Namen, Orte, Objekte werden immer wieder genannt, bieten Orientierungshilfen an, aber nur scheinbar, denn es geht hier nicht um einen Fortgang des Texts, und wenn, dann in einem sehr wörtlichen Sinn von Fortgehen. „W“ ist ein anfangsloser Text in dem Sinn, dass keine Ausgangssituation präsentiert wird, um die herum konstruiert würde. Kein Sog zieht den Leser in etwas hinein. Der kompakt scheinende Absatz birgt unterschiedlichstes Material. So als ob die verschiedenen ihn ausmachenden Teile unterschiedliche Sprunggelenke hätten und/oder ihre Artikulationskapazität nur selten zureichend zum Ausdruck bringen könnten. An manchen Stellen steht ein bloßer Teilungsartikel oder ein Personalpronomen. Dann hat man den Eindruck, dass Versuche gemacht werden, Erinnerungen an Träume festzuhalten. Diese Versuche wird der Leser im Lauf des Texts vermutlich an einer konkreten Situation festmachen, derjenige, der da spricht, liegt vielleicht auf einer Couch, und ein anderer hört ihm zu. „W“ ist aber kein Protokoll einer Analyse beim Psychoanalytiker, auch wenn die Wiener Richtung durchaus eingeschlagen ist (der Buchstabe W für Wien, die Berggasse wird öfter genannt, die Straße also, wo Freud seine Patienten empfing, es wird von erster, zweiter usw. Sitzung gesprochen, von „Korrekturen“). Dieses Syndrom ließe sich weiter verfolgen, das familiale Muster ist angelegt, Vater, Mutter, eine Schwester, die einem etwa siebenjährigen Knaben Konkurrenz in Sachen Aufmerksamkeitsvergabe macht. Daive ist aber an keiner Stelle daran interessiert, die brüchige „bottom-up“-Situation des Texts durch Bojen welcher Art auch immer zu entschärfen. Das Motto des Textes, das dramatisch, vielleicht auch nostalgisch zu lesen man eingeladen wird, steht gleich am Anfang von „W“: „Sagen und nicht wissen.“ Steckt in diesem kleinen, lapidaren Satz nicht schon die ganze menschliche Tragödie? Daives Text bestätigt diesen Anfangssatz. Er weiß es nicht besser. Aber was ist denn dieses „es“? Wahrscheinlich der nie voll entwickelbare Bezug auf das, was Sprache im besten Fall nennen kann, ohne dass diese sicher sein kann, in diesem Nennen in einer stabilen Ordnung zu stehen. In diesem Sinn wäre „W“ ein konsequenterer Versuch als zum Beispiel Hofmannsthals so genannter „Chandos-Brief“, von diesem brüchigen Verhältnis von Sprache und Wirklichkeit als dem nie habhaft zu machenden Referenten nicht nur zu sprechen, sondern sich in dieser von Haus aus schwer angeschlagenen Intentionalität einzurichten. Wie wohnt es sich „wirklich“ im „Haus der Sprache“? Mit jedem weiteren Abschnitt bestätigt sich die Anfangsvermutung, was alles an Annehmlichkeiten des Sagenkönnens Daive hinter sich gelassen hat. Prousts Madelaine gebiert hier eher Schluckauf und Stottern, der „élan vital“ scheint wie abgeschnitten, die Stempelkissen des Gedächtnisses unterschiedlich ausgetrocknet. Die Abbreviatur und Reduktion von „W“, die in dem fünften Teil von „Erzählung des Gleichgewichts“, „America domino“, noch gesteigert wird, ist aber nicht das letzte Wort von Jean Daive, der auch andere Formate „beherrscht“, was er zum Beispiel in der ebenfalls aus verschiedenen, relativ unabhängig voneinander zu lesenden Partien seiner Arbeit „La Condition de l’infini“ vorführt, deren fünfter Teil, „Sous la coupole“, von seiner Freundschaft mit Paul Celan berichtet. Das ist ganz flüssig geschrieben, aber die syntaktischen Seltsamkeiten von „W“ scheinen hier nur auf ein anderes Niveau transponiert, um anzuzeigen, dass die Substanz zweier Dichter nicht die der (schnöden) Welt sind, und schon gar nicht die von Philippe Sollers. „W“ „ist“ kein Abenteuer, aber man kann es dazu machen. Davon zeugt auch Werner Hamachers ganz langer Essay im Anschluss von „W“.

 

Dieter Wenk (09.06)

 

Jean Daive, Erzählung des Gleichgewichts 4. W, Französisch und Deutsch, übersetzt und mit einem Essay von Werner Hamacher, Basel und Weil am Rhein 2006 (Urs Engeler Editor)