27. September 2006

Faktotum

 

„Ich werde ein anderes, wunderliches Abenteuer erzählen ...“, beginnt der Roman und öffnet damit wenigstens zwei Serien des von nun ab in jede Richtung wuchernden Sinns. Jedoch ist weniger anzunehmen, uns solle eine weitere Geschichte erzählt werden – das nur unter anderem –vielmehr gibt es einen Hinweis auf die Abwesenheit der eigentlichen Geschichte, dass es sich um eine handelt, die immer schon eine andere ist. Die Geschichte humpelt als Prothese der eigentlichen, entwendeten und unzustellbaren Geschichte umher.

 

Zwei Männer brechen zum Landaufenthalt auf, der eine, um sich auf sein Examen der Jurisprudenz vorzubereiten, der andere in der Absicht, Akten zu sortieren. Doch gegen diese Ordnung des Rechts und des Strukturierten beginnt sich vom ersten Moment an die faktische Macht der Ereignisse durchzusetzen. Beginnend mit einem gehängten Spatzen, lassen sich die beiden Männer dabei erleben, wie sie abgelenkt von ihren Vorhaben die möglichen Linien konstruieren, die zu diesem Faktum geführt haben könnten. Doch die Angst vor einer Kriminalgeschichte, in der sich Prokrustes gegen die loose ends zu schaffen macht und die Welt in einem eindeutigen Hergang der Geschehnisse ihrer Wohlbegründetheit versichert, ist unbegründet. Münder, Lippen, Öffnungen und Spalten zeigen sich an allen Orten in wild gebastelten Agglomerationen, durch deren Dickicht einige Partikel der Differenzphilosophien des 20. Jahrhunderts scheinen und niemand mehr weiß, wer hier eigentlich auf wen verweist. Der nüchterne Priester betrinkt sich unter den Adlern des hohen Gebirges.

 

Jeder Fakt wird in diesem Roman zum Faktotum, zur nicht mehr aufhebbaren Singularität in einem Universum, in dem sich die Dinge wechselseitig wiederholen und aneinanderketten, die Knoten weder gelöst noch zerschlagen, sondern für sich genommen und allenfalls noch kompliziert werden. Der Mund kommt zum Mund, der Spatz zum Spatzen, und alle sind per se in einem anderswo, hängen an irgendwelchen Fäden, deren Existenz sich nicht belegen lässt, allenfalls retrospektiv, gleichen Pfeilen und Fluchtlinien ins irgendwo, die auf nichts verweisen, bis sie eine gleichermaßen deutliche und erkennbar arbiträre Zuordnung erfahren.

 

Gombrowicz schreibt über das Chaos in der einzig verfügbaren Form, dem Kosmos, der sich immer schon über das Gewimmel und die Gleichwertigkeit der Einzelheiten gelegt hat und sie in eine Ordnung bringt. Doch, den Autor paraphrasierend, keine Leitmelodie ist vorhanden und unsere Konzentration auf einen Flecken der Landkarte, von dem wir die anderen bestimmen, lässt jene in den Hintergrund treten und verwischen. Er, Gombrowicz, hat dies auch ausgeführt, sich über Serien und innere Resonanzen geäußert, doch dieses Vorwort ist in der Ausgabe bei Fischer leider nicht mit abgedruckt. Dafür gibt es darin eine 20-seitige Variante des Textes zu finden, die uns über die Unverhältnismäßigkeit des Ausdrucks belehrt und die innere Varianz des Textes verdeutlicht, das „gleich und gleich im Himmelreich“ verharren lässt.

 

Hannes Loichinger

 

Witold Gombrowicz: Kosmos, Fischer 2005

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

amazon