24. September 2006

Luhmann-Schienen und Adorno-Schrauben

 

Abgefahren! Jetzt ist es raus. Der Zug der Postmoderne steht endgültig auf dem Abstellgleis. Zumindest das theoretische Rüstzeug zur Ablehnung einer Reise mit der verspielten Bimmelbahn legt Harry Lehmann in seiner Doktorarbeit schon bereit. Und zwar soll der Sprung auf die Lok Postpostmoderne mit nicht weniger als dem Zusammenführen der beiden Mega-Reflexionstheorien gelingen: Philosophie und Systemtheorie, die bisher doch so streitbar sich gegenseitig ausschlossen. Adorno und Habermas bisher auf der einen, Luhmann und Epigonen auf der anderen Seite des Gleises reichen sich nun die Hand auf der Fahrt ins Glück. Wie, man hat von dieser Revolution noch nichts mitbekommen? Gut, das kennt man schon. Erst einmal ist die Kunst als Vorreiter dran, dann schwappt es in die anderen Bereiche der Gesellschaft zurück. Wer darauf nicht Jahrzehnte warten will, lese „Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann“ eben schon heute.

 

Die Postmoderne sei die Leitkultur unserer Gesellschaft, heißt es da. Sie stelle jedes Urteil unter Dekonstruktionsvorbehalt. Die für unsere Zeit symptomatische universelle Unterscheidungs- und Bewertungsunfähigkeit würde uns exemplarisch durch die neue Kunst vor Augen geführt. Die Postmoderne setzte sich als die unbestimmt bleibende andere Seite der Moderne.

 

Damit ist es nun vorbei, denn Lehmann hat die Fahrkarte für die Nachfolgetheorie: „Was diese Epoche (...) ihrem Begriff nach ist, lässt sich erst von einer Nachfolgekonzeption her beurteilen, die dieses derzeit dominierende Selbstbeschreibungskonzept als die bestimmte andere Seite ihrer selbst behandeln kann, von der sie sich absetzt. Solche Nachfolgetheorien müssen universalistisch konzipiert sein, also in unserem Fall nicht nur die Schwierigkeiten, sondern auch die Wahrheitsansprüche der postmodernen Theorien mit reflektieren können.“ Dazu bemüht Lehmann die gute alte Philosophie.

 

Sein Vorhaben besteht darin, mit Luhmann gegen Luhmann und mit einem Schuss Adorno in der Systemtheorie eine Lücke für die Möglichkeit von Gesellschaftskritik auszumachen. Das schien erst einmal systematisch ausgeschlossen. Eine herausgehobene Beobachterposition gibt es nach Luhmann nicht, und der Wahrheitsbegriff ist dem profanen Wissenschaftssystem vorbehalten. Auch das Kunstsystem wird nicht begeistert sein, seine Autonomie wieder aufzugeben, widerspricht der Wahrheitsbezug doch grundlegend der Autonomie von Kunst.

 

Eine Lücke in Luhmanns System findet der Autor in dessen Kunstidee. „Über den Aspekt der Selbstprogrammierung von Formenkombinationen wird der Kunst der Gesellschaft ein normativer Werkbegriff eingeschrieben.“ Ein nicht ganz abwegiges Argument, betrachtet man Luhmanns Auswahl an Kunstwerken zur Unterstützung seiner Thesen. Doch Lehmann geht noch weiter. Die Humanmedien allgemein sind für ihn der Schlüssel sowohl zur Überwindung der Systemtheorie als auch zu gesellschaftskritischer Distanz. Unter Humanmedien hatte Luhmann neben der Kunst auch Liebe, Glaube und Philosophie verstanden. Im Gegensatz zu den Kommunikationsmedien in Wirtschaft, Recht und Wissenschaft verfügen die Humanmedien über einen partikularen Bezugspol. „Die von den Medien der Funktionssysteme geführte Kommunikation schließt sich gegen die Welt ab, sie beschränkt sich auf einen Sektor der Welt, in dem sie sich entfalten und ausdifferenzieren kann, und transformiert auf diese Weise die Welt in eine spezifische Umwelt. Die Kommunikation der Humanmedien bleibt hingegen zu jeder Zeit weltoffen; sie transformiert die Welt in eine je partikulare Welt.“

 

An diese Konzeption der Humanmedien schließt Lehmann an und lässt den Menschen wieder rein ins System. Diesmal nicht heimlich durch die Hintertür, sondern vorne durch den Empfang, mit allen normativen Höflichkeiten. In den Humanmedien nämlich ist ein Verstehen im emphatischen Sinn gefragt.

 

Anhand der Unwahrscheinlichkeit des Kunstsystems versucht er, das Gewicht, das er den Humanmedien zugesteht, verständlich zu machen. „Das Kunstwerk benutzt auf der einen Seite die Erwartungen des Kunstsystems, um sie gezielt zu enttäuschen, und das Kunstsystem muss auf der anderen Seite gerade das Überraschungsmoment solcher Werke in seinen eigenen Erwartungshorizont einbauen. Ein solcher Prozess ist höchst unwahrscheinlich und lässt sich weder programmieren noch technisieren, geschweige denn von außen steuern.“ Dass das Kunstsystem dennoch existiert und funktioniert, liegt Lehmann zufolge daran, dass die Kunst ihren Sinn reflektiert und einen besonderen Weltbezug herstellt. Um dies zu untermauern und um den Beweis anzutreten, dass seine Theorie im Gegensatz zu zeitgenössischen Theorien der ästhetischen Erfahrung (die als Nachfolgetheorien der Wahrheitsästhetiken angetreten sind) wieder das Zeug dazu hat, eine Werkästhetik zu sein, scheut Lehmann auch nicht vor Kunstinterpretationen zurück. Er zeigt den „Weltbezug“ bei so unterschiedlichen Kunstwerken wie Bunsens „Kabelkalb“, Bonvicinis „Hausfrau, Swinging“, Vinterbergs „Das Fest“ und Grünbeins „Sonette 1“.

 

Der Witz der Kunst liegt darin, vom Betrachter zu fordern, dennoch zu verstehen. „Das vermeintliche Misslingen der entsprechenden Kommunikation wird gerade nicht zum Anlass genommen, zum nächsten Bild weiterzugehen ... Kunstwerke gewinnen über die künstlich erzeugten Unbestimmtheitsstellen ihren Wirklichkeitsbezug zurück, den sie als autonome Werke vorsätzlich verspielen.“ Dazu muss das Kunstwerk Lehmann zufolge allerdings auf Erfahrungsmuster aus der Lebenswelt zurückgreifen. „Kunst findet ihren sozialen Sinn in der Provokation neuer gesellschaftlicher Selbstbeschreibungen ... der Ort dieser Kritik liegt aber nicht unmittelbar in der Lebenswelt der Menschen, sondern in der von den Humanmedien konstruierten Sphäre der Hochkultur – in der sich, wenn sie funktioniert, moderne Demokratie restabilisiert.“

 

Ja, da haben wir nun schön alles miteinander vermischt. Elitäre Kunstauffassung, kritische Aufklärung und systemtheoretische Analyse. Harry Lehmann ist schlau genug, für seine offensive Einführung der Normativität in die Kunst keine wirkliche Begründung zu liefern. Er spricht von einem hypothetischen Imperativ. Und weiß Gott, er hat nicht Unrecht, wenn er glaubt, die Kunstchose darüber erklären zu wollen, dass so ein Imperativ tatsächlich in den Köpfen vieler Beteiligter rumschwirrt. Denn womit sonst ist beispielsweise das immer wiederkehrende Beklagen des Ausverkaufs im Kunstbetrieb zu verstehen?

 

Doch natürlich kommt auch die systemtheoretisch aufgepeppte Philosophie wieder mal zu spät. Mag es den Künstlern und Kunstbetrachtern bzw. -käufern in ihrem Selbstverständnis auch nicht um Lehmanns emphatischen Begriff von Wahrheit gehen, parasitär nutzt das System Kunst ihn bereits längst. Sei es als Stilisierung einer romantischen Künstlerfigur, als Avantgarde oder als ökonomisches Alleinstellungsmerkmal. Im Gegensatz zur Wahrheit hat die Postmoderne allerdings, anders als Lehmann dies behauptet, keinen Zeitkern. Sie ist die Kamera, die immer mitfährt und die dank Digitaltechnik Bilder von der Moderne schießt, die beliebig abgerufen und zurückprojiziert werden können.

 

Gustav Mechlenburg

 

Harry Lehmann: Die flüchtige Wahrheit der Kunst. Ästhetik nach Luhmann, Wilhelm Fink 2006, 49,90 €

 

 

Berichtigungen von Harry Lehmann:

Zum einen ist der Begriff der Humanmedien nicht von Luhmann, sondern von mir eingeführt worden. Die Einführung selbst ist nicht willkürlich, sondern die Idee ist, daß in Luhmanns Texten zu Kunst, Intimität und Religion sich systematische Abweichungen und Anomalien auffinden lassen, die sich einsammeln und zu der These verallgemeiner lassen: Daß diese Kommunikationsmedien bzw. ihre Funktionssysteme anders funktionieren als es die Systemtheorie denkt. Mein Einwand ist, daß Luhmann die Systemlogik des Wissenschafts-, Rechst- und Wirtschaftssystems blind auf die Kunst übertragen hat. Die Codierung der Kunst (wie aller Humanmedien) folgt nicht dem Satz des ausgeschlossenen Dritten (was z.B. für wissenschaftliche Wahrheit konstitutiv ist), sondern im Kunstsystem kommt es darauf an, im System gegen das System zu operieren. (Um das zu formalisieren habe ich den Begriff des re-exit in Ergänzung zum re-entry eingeführt). Wegen dieser codierten Gegenlogik wird das Bewußtsein der Menschen aus der Kommunikation von Kunst, Religion, Liebe nicht systematisch ausgeschlossen (wie in Recht, Wiss. und Wirtschaft), sondern zur permanenten Intervention angeregt - deshalb der Begriff Humanmedien.

 

Zum anderen spreche ich nicht von hypothetischen Imperativen, sondern habe den Begriff des hypothetischen Konjunktivs eingeführt (S. 280, 295), um den normativen Status meines konstruktivistischen Theorieprojektes klären zu können. Die Großthesen der Philosophie sind selbst nicht normativ, aber sie greifen in die Selbstbeschreibungsgrammatik der Gesellschaft ein, indem sie dem mitdenkenden Leser ermöglichen, sich mit eigenen Gründen für oder gegen etwas zu entscheiden.

 

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