21. September 2006

Gefahrvolles Lesen

 

Ein unachtsamer Schritt bildet den Auftakt dieses Romans: Die Protagonistin Jutta, eine Pflegedienstleiterin aus Essen, die in Tiflis Krankenschwestern unterrichten soll, tritt vor dem örtlichen Goethe-Institut ins Nichts, fällt auf den Kopf und schlittert auf vereisten Straßen mittenrein in die postsowjetische Realität. Ihre Unachtsamkeit wird auch später noch eine Rolle spielen und sogar Todesopfer verlangen, erst einmal lernt sie aber das Leben im Kaukasus kennen. Die Tatsache, dass die Prioritäten ihrer Schülerinnen oftmals woanders als in ihrem Kurs liegen, ermöglicht ihr verschiedene Erkundungen. Beispielsweise muss die nur sporadisch verfügbare Elektrizität genutzt werden, denn wenn wieder zu viele Einwohner Licht und Heizlüfter gleichzeitig anschalten, ist es schnell vorbei damit.

Aber zum Glück gibt es das Goethe-Institut und darin besonders Helga, die es nur gut meint und Jutta bittet, einen Jungen im Krankenhaus zu besuchen, der mit niemandem sprechen will, aber von dem vermutet wird, er könne aus Deutschland sein, da sein greiser Bettnachbar, ein ehemaliger Kriegsgefangener ihn im Schlaf auf Deutsch hat reden hören. Somit ist die zweite Hauptfigur des Romans eingeführt. Der Junge, dessen ungewöhnliches Aussehen, besonders die karottenroten krausen Haare und Lippen, „breit wie Lastwagenreifen“, ihn zu Hause zum Außenseiter gemacht haben, erzählt eine abenteuerliche Geschichte, die als harmloses Ferienabenteuer beginnt und bald zum Horrortrip wird. Eigentlich wollte er sich auf die Suche nach dem goldenen Schloss des Petersburger Mohren machen, von dem in einem Kinderbuch die Rede ist. Lesen kann also doch gefährlich sein.

Die dritte Hauptfigur ist behandelnde Arzt, Platon Agrba, ein Flüchtling aus Abchasien, der in einem zum Flüchtlingslager umfunktionierten Hotel lebt und ein Schaf auf dem Balkon hält. In diesen Platon verliebt sich Jutta, sie verzweifelt allerdings fast an seiner zurückhaltenden Höflichkeit. Er führt sie durch die Stadt, aber es dauert, bis sie ihn in sein Zimmer begleiten darf. Am Eingang des Hotels herrscht eine strenge Kontrolle, Männer, bei denen eine Waffe gefunden wird, werden sofort erschossen, ebenso, wenn die Frau in ihrer Begleitung bewaffnet ist.

Im Laufe der Erzählung stirbt der Junge im Krankenhaus, er hinterlässt Jutta seine alte Pistole, und man ahnt schon, welch schrecklichen Verlauf das Schicksal hier nehmen wird. Jutta vergisst, dass sie eine Pistole in der Handtasche hat, will mit Platon, inzwischen gar der Vater ihres ungeborenen Kindes, ins Hotel – und so endet die junge Liebe jäh.

Andreas Marber zeigt in seinem ersten Roman eine unglaubliche Lust am Fabulieren, es ist eine wilde Mischung aus fantastischem Abenteuerroman, Liebesgeschichte und Reiseerzählung, dazu kommen die dauergegenwärtigen Themen Migration und Kulturkonflikt. Manchmal wirkt das alles fast ein bisschen zu viel, aber das Lesen macht Spaß und ist auch in diesem Fall gar nicht gefährlich. Falls man sich nicht gleich in den Kaukasus aufmachen möchte, um die georgische Realität vor Ort kennen zu lernen.

 

Katrin Zabel

 

Andreas Marber: Platon, Hoffmann und Campe 2006

 

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