20. September 2006

Kick it like Brecht

 

Gut, man hat das Theaterstück, jetzt den Film, der wie ein Theaterstück aussieht, wenn man nicht schon damals in den Vermischtenmeldungen oder in den darauf folgenden Prozessberichten von dem realen Schauerstück aus dem Jahr 2002 erfuhr. Die tiefste Provinz mal wieder. Potzlow, ein Dorf etwa 50 Kilometer nördlich von Berlin, soll eigentlich ganz schön sein (äußerliche Schönheit), doch innen, wer schaut in die Herzen der Menschen? Im Sommer 2002 bringen dort drei junge Leute einen 16-jährigen Jungen, den sie ganz gut kennen, um. Das Opfer, Marius Schöberl, wird über Stunden geschlagen und am Ende vom 17-jährigen Marcel Schönfeld modellgerecht exekutiert. Den Toten verstecken die drei in einer Jauchegrube, ein paar Monate später fliegt alles auf. Am Ende stehen Einblicke in triste Verhältnisse und jeweils ein paar Jahre Haft für die Schuldigen. Den Dokumentarfilmer Andres Veiel und die Dramaturgin Gesine Schmidt hat das nicht losgelassen. Monatelang recherchierten sie vor Ort, führten Gespräche, protokollierten, und am Ende stand ein Theaterstück, „Der Kick“. Der Film „Der Kick“ sieht nach Zweitverwertung aus. Als ob man bei einer Aufführung einfach nur die Kamera draufgehalten hätte. Zwei Schauspieler, Susanne-Marie Wrage und Markus Lerch, wirken wie verloren in dem riesigen, kalten Gewerbehof in der Berliner Saarbrücker Straße. Entlang der Erzählachse aus der Perspektive des Marcel Schönfeld reihen Veiel und Schmidt verschiedene Stimmen aus dem Umkreis von Opfer und Tätern: Eltern, Schwestern, Freundinnen, Bürgermeister… Wrage und Lerch, immer in derselben schwarzen Kleidung, zeigen uns noch einmal, was Brecht mit seiner Verfremdung wollte. Sie sind und bleiben die zeigenden Schauspieler, aber in Stimme, Mimik und Gestik nehmen sie einen Teil der Figuren auf, die sie charakterisieren. Die fürchterliche Geschichte geht also in der Erzählung des Täters voran, und mit immer mehr Material diverser Personen gleicht der Zuschauer das Berichtete ab. Am Ende will sich aber trotzdem keine Erkenntnis einstellen. Geht es um das „Wehret den Anfängen“? Wo wären die? Wo sie eh schon im Plural stehen. Natürlich ist mal wieder die üble braune Sauce angerührt. Erzählt wird im Grunde die Geschichte eines Sündenbocks: Egal, ob einer wirklich Jude ist oder nicht, es reicht, ihn dazu machen zu können oder sein Bekenntnis zu hören, und dann kann es losgehen. Marius Schöberl war kein Jude, er hat ein bisschen gestottert und bei dem Spiel, dessen Anfänge auch dieser Film nicht einfängt, mitgespielt und sich als „Jude“ bekannt. Die Welt ist wie eine Fiktion strukturiert, und das macht sie so gefährlich. In dem Moment, als das Bekenntnis fällt, fangen die Faustschläge ins Gesicht an. Die Opferung zieht sich über Stunden hin, am Ende steht die Hinrichtung in der Folge des Films „American History X“: Man lege dazu einen Kopf auf einen Bordstein und springe mit beiden Füßen kräftig drauf. Das soll sogar die beiden anderen Täter verstört haben. Das Problem mit diesem Film ist, dass man ihn schnell durchschaut. Und die frühe Erkenntnis, dass die Dokumentation das schlimme Faktum nicht erreichen wird. Eine Zeit lang schaut man den Schauspielern dabei zu, ob sie die Figuren vielleicht gut einfangen, „gut“ spielen, aber diese halbe Anlehnung an das O-Ton-mäßige wirkt weniger verfremdend als hilflos. Dieser Film ist so ordentlich, es geht immer schön im Kreis, jeder darf mal was sagen, und am Ende steht ein „tableau vivant“ aus einem quasi Notensemble, das die „Szene“ verdeckt. Warum muss ein Film so spartanisch sein. Das Zirkulierenlassen der Schauspielerkörper könnte den Eindruck vermitteln, dass es jeden treffen könnte. Aber das stimmt so nicht. Und mit einer Merkmalsanalyse ist es auch nicht getan. Irgendwo zwischen diesen Polen zieht die Tat hindurch. Manchmal auf Nimmerwiedersehen, manchmal wird sie selbst zum Modell. Veiel hat einen impressionistischen Film gedreht. Aber er war zur falschen Zeit am Ort.

 

Dieter Wenk (07.06)

 

Andres Veiel, Der Kick, D 2005