8. September 2006

Miriam und Meriem, Ben und Dan

 

Nach „Aspartam“ und „X“ ist „Ben Kader“ der dritte Roman des in Zürich geborenen Schriftstellers Daniel Goetsch. Der 239-seitige Text beginnt als ausführliche Alltagsbeschreibung des sittsam gelangweilten und mehr oder minder angewiderten Dan. Der mag seinen Job nicht, weiß mit seiner Umwelt und seinen Mitmenschen wenig anzufangen. Es scheint ihm der Bezug zu sich selbst abhanden gekommen zu sein. Auch zu seiner Freundin Miriam pflegt er ein seltsam distanziertes und schweigsames Verhältnis.

Miriam fliegt von Zürich für drei Monate nach Hamburg, um dort ihren halb dokumentarischen Film über die legendäre Vorzeigeheldin Isabelle Eberhardt zu schneiden, auf deren Spuren Miriam wandelt. Der Abschied zwischen Dan und Miriam soll sich betont unaufgeregt und unsentimental gestalten, darin gibt man sich beinahe Mühe. Das aber gerät höchst banal und fühlloses, was deshalb schmerzt. Die beiden wissen nach ihrem Abschied lange Zeit nichts voneinander. Das Verhalten wundert den Leser und lässt ihn ebenfalls raatlos zurück, was Zweck der Übung ist.

Kurzum: Dan weiß nicht, wo er hingehört. Er kann mit den partysüchtigen und oberflächlichen Figuren seiner Generation nichts anfangen. Immer wieder wird er Zeuge von hohlen, effektheischenden Performances und Kunst-Events, die mit seinen Empfindungen von Leere und Beziehungslosigkeit nicht viel zu tun haben und ihn langweilen. Weder scheint er zu seiner Mutter noch zu seinem zwei Jahre älteren Bruder Nadir ein emotionales Verhältnis zu haben. Die besondere Interesselosigkeit und nüchterne Abneigung Dans gegenüber seinem Vater ist erstaunlich und (wenigstens) etwas schockierend. Der alte Mann tut einem Leid. Dan und auch sein älterer Bruder Nadir kümmern sich nicht um ihn und lassen ihn liegen, als wäre er ein noch zu erzählender Seitenstrang.

Dan selbst wird auch nicht als allzu sympathischer Mitmensch eingeführt. Auch ist er kein Antiheld. Der Leser wird feststellen, dass Dans Wahrnehmung nur ein bisschen tiefgründiger ist als die der fleischgewordenen Umgebung seiner Oberflächenbenutzerschaft von Mitmenschen. Dan ist nur introvertierter und weitschweifender in seiner Suche. Man fragt sich, was er sucht: Bedeutungen, Sinn, kulturelle Zugehörigkeiten, seine Bestimmung? Dan ist jenseits von allem und vergeudet sich an seinen eigenen Missmutigkeiten – allerdings ohne Genuss daran zu haben. Er weidet sich nicht und ist auch kein Zyniker. Seine Reflexionen und Analysen sind amüsant, seine Kritik berechtigt und scharf. Das aber erfreut ihn nicht, der Leser aber schmunzelt.

Dan arbeitet bei „Mecon, Medienkontrolle“, wertet dort Zeitungsausschnitte und Dokumente über einen Flugzeugabsturz aus, dessen Ursache geklärt werden soll. Nachtigall, ick hör dir trapsen, mag der Leser dann denken und wird auf eine falsche Fährte gelockt.

 

Was in Goetschs zweitem Roman „X“ abgründig war, wirkt in „Ben Kader“ etwas fad und ist, wie man später feststellt, der 1:1-Ausdruck eines zeitgenössischen und verwaschenen Existenzialismus, dem nichts Schockierendes mehr anhaftet, der sich nur noch totgelaufen hat in der Wiederholung, den Beliebigkeiten von Leere und Zeitverschwendungen, Gleichgültigkeiten und unglaubwürdigen Ekstasen. Die Probleme von Dans Generation haben ihre Wurzeln in der Geschichte der Eltern und Urahnen. Mit denen aber wollen weder er noch seine Freunde etwas zu tun haben.

Sein Bruder schon. Er gibt Dan den zynischen Rat: „Du müsstest nach New York ziehen. Dort dreschen zurzeit alle auf Freud ein. Die Psychoanalyse gilt als reine Zeitverschwendung, kostet nur Geld und Nerven. Verdrängung ist angesagt. Verdränge alles, und du bleibst jung und gesund und dynamisch.“

 

Der im Sterben liegende Vater trägt Dan auf, ein Dokument an eine Journalistin zu versenden, das den Titel AS 1957 trägt. Dan drückt sich viele, viele Seiten lang, das Dokument zu öffnen oder auszudrucken. Hat er es ausgedruckt, lässt er es ungelesen aus lauter Zerstreuung in einer Bar liegen. Das erzeugt eine Art negativer Spannung, die sich schwer auf die Atmosphäre des Textes legt. Man möchte den mittelalten Knaben Dan rütteln.

Als dieser endlich in der fremden Zweizimmerwohnung seines Vaters das Dokument liest, erschließt sich eine zweite Ebene. Und der bis dato nur schemenhaft anwesende, dahinsiechende und schweigende Vater (dessen Schweigen Dan übernommen und in seine Beziehung zu Miriam hineingetragen hat), bekommt inneres Leben eingehaucht. Es entpuppt sich eine Vater-Sohn-Verstrickung ungeahnt tragischen Ausmaßes. Und das ist auch das zentrale Thema des Romans: das Weitertragen von Geschichte und Wiederholung von Lebensumständen. Die arabische Welt und Europa, Frankreich und Algerien – das impliziert Abhängigkeiten, Kriegswirren und nicht nur kulturelle Ausschlachtung.

 

Ben Kader, der eigentlich Bennik Kaderian heißt, schildert in seinem Bericht, wie er sich in den 40er und 50er Jahren als Sohn mittelloser Algierfranzosen aus ärmsten Verhältnissen emporarbeitet und als wissenschaftlicher Assistent von Professor Jean-Louis Katz an der Sorbonne tätig wird und sich mit Claudine, der Tochter des Professors, verlobt. Ben macht die Bekanntschaft von Staatspräsidenten, wird von Zeitungen um Stellungnahmen und Gutachten gebeten und darf sich gute Chancen auf einen Lehrstuhl für Arabische Literatur in Lyon ausrechnen. Seine Zukunft scheint rosig. Doch 1957 wird der Orientalist Kaderian vom Staatsministerium in den Algerienkrieg abkommandiert, wo er für die Franzosen arbeitet und gefolterten Arabern in perfider Weise die letzten Geheimnisse entlocken muss. Er zerbricht daran. Ben lernt in einer Bar eine Frau kennen: Meriem. Sie trachtet ihm zuerst mit zwei Komplizen nach dem Leben, beginnt dann aber eine Affäre mit Ben. Als dieses nach einiger Zeit bekannt wird, muss sie vor dem Militär fliehen. Da hat sich Bens Verlobte Claudine nach einem Besuch in Algier von ihm längst getrennt, weil er abwesend schien, wie weggetreten und sich zu nichts äußerte. Ben begleitet seine leidenschaftlich geliebte Meriem auf ihrer Flucht in die Wüste nach Äin-Sefra, wo sie ihm in einer orgiastischen Nacht ihre Liebe gesteht. Nach Äin-Sefra kommt über 40 Jahre später auch Dans Freundin Miriam, um dort einen Teil ihres Film über die legendäre Isabelle Eberhardt zu drehen, die sich Jahrzehnte früher auch da herumtrieb. Was auf der Düne passiert ist, stellt für Vater und Sohn die Weichen ihres Schicksals: Ben erlebte dort den sexuellen Höhepunkt seines Lebens, muss seine Geliebte danach aber verlassen. Dan ohrfeigt an dieser Düne seine Freundin Miriam, die er verloren glaubt, ohne zu wissen warum.

 

Der Orientalist Ben Kader wurde nach dem Algerien-Krieg wissenschaftlicher Experte für Arabien und legte sich mit der Fachwelt an, die er des Kulturimperialismus bezichtigte. Nach seiner unglücklich endenden Liebe heiratete er eine andere Frau und zeugte als über 40-Jähriger zwei Söhne, zu denen er scheinbar kaum Bezug entwickelte (obwohl er sich selbst immer wieder in seinem jüngsten Sohn Dan gespiegelt sah, wie man gegen Ende des Buches erfährt).

 

Dan fährt nach dem Lesen der Akte zur Premiere des Films seiner Freundin Miriam nach Hamburg, wo die Entfremdung ihren weiteren Verlauf zu nehmen scheint. Am Morgen danach aber finden Dan und Miriam wieder zusammen, steigen gemeinsam in ein Flugzeug und fliegen zurück nach Zürich. Was von ihnen abfällt, sind die Masken derer, denen sie, ohne es zu wissen, nacheiferten. Nun ist es an ihnen, sich ihrer eigenen Geschichte zu stellen. Ihre Zukunft wird durch das Datum 11. September 2001 (es ist der Tag, an dem der Roman endet – vor der Katastrophe) in ein düsteres Licht gestellt. Holt sie die Vergangenheit Arabiens doch wieder ein? Das allzu bekannte Ereignis wird glücklicherweise nicht geschildert.

 

Das Textende lässt mit einer novellenartigen Wendung den ganzen Roman in einem anderen Licht erscheinen und macht das Buch großartig. Kunstvoll werden die verschiedenen Stränge – ob Vorgriff oder Rückschau – zusammengefügt, die unaufdringliche Sprachführung mutet klassisch an. Daniel Goetsch ist ein echtes Schmuckstück der Gegenwartsliteratur gelungen.

 

Carsten Klook

 

Daniel Goetsch: Ben Kader, bilgerverlag 2006

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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