18. August 2006

Rhapsodie im Funkturm

 

Musik und Sprache gehörten einmal zusammen. In der griechischen Antike wurde zu Versen die Lyra gespielt, woraus sich der Begriff der Lyrik ableitet, die – so zumindest eine Definitionsmöglichkeit – auf rhetorischem Weg musikalische Wirkung zu erzielen sucht. Der Grund für das schwindende Interesse an Lyrik beim Publikum, das in den letzten Jahrzehnten beklagt wird, geht einher mit einer paradoxen Entwicklung: Einerseits hat es wahrscheinlich kein Zeitalter gegeben, in dem Musik, entweder in MP3-Playern oder als „Musac“ in Kaufhäusern und Restaurants, gegenwärtiger ist wie in unserem; andererseits hat sich aber damit die Rezeption von Musik geändert: Als ständiges Hintergrundgeräusch, auf das man nur achtet, wenn es plötzlich aufhört, läuft sie nebenher. Diese Art von Musik, bei der keine Unterschiede bezüglich des Genres gemacht werden, hat sich aus dem „schwierigen“ elitären Diskurs verabschiedet und ist buchstäblich populär geworden. Weil aber Neue Musik den klassisch-elitären Diskurs weiter bedient, findet sie zunehmend unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. Der Niedergang dieser beiden einst heiligen Kühe einer Elite, der Lyrik (die heute vor allem in Poetry Slams und deutschsprachigem Pop neue Impulse erfährt) und der Neuen Musik, mag letztlich seinen Ursprung in soziologischen Veränderungen, dem Verschwinden des Bürgertums, haben. Nichtsdestotrotz gibt es so etwas wie Zurüstungen des Genres, die zeigen, dass die klassische Lyrik durchaus Chancen auf ein Überleben hat. Wenn Durs Grünbein und Thomas Kling zwei Seiten einer Münze darstellen, hier die fast schon klischeehafte Figur des bürgerlich-elitären Dichters und dort die des geilen, aber unverständlichen Avantgardisten, so meldet sich in den letzten Jahren eine neue Generation von Lyrikern zu Wort, die eine andere Linie des Gedichts in Deutschland weiterzuführen scheint, die des landläufig als Pop-Literaten bezeichneten Brinkmanns oder Borns. Die Lyriker heute sitzen denn auch zwischen zwei Stühlen: zwischen traditioneller Elite und poppiger Gegenwartskultur, zwischen Hölderlin und Blumfeld.

 

Dem kleinen Berliner Verlag Kook-Books kommt der Verdienst zu, dieser Art von Lyrik, die nicht mehr so recht in die Programme der sich gerade neu definierenden (oder besser: dekonstruierenden) Majors passen will, ein schon dem schicken Design der Bücher nach zeitgemäßes Gewand, ja, eine Plattform gegeben zu haben. Der Erfolg – zumindest bei den Kritikern – gibt Kook-Books Recht: Nahezu alle Lyriker, zuletzt Uljana Wolf, sind mit wichtigen Preisen ausgezeichnet worden. So auch Steffen Popp, Jahrgang 1978, mit seinem Band „Wie Alpen“ von 2004. Jetzt hat Popp einen Roman vorgelegt, „Ohrenberg oder der Weg dorthin“, der vor Augen (oder Ohren) führt, dass es der Gattung Roman nicht anders geht. Denn auch die Prosa hat sich ja in den letzten Jahrzehnten deutlich weg vom Lyrischen, d. h. hier: vom rhythmisch Vertrackten, Verwinkelten entwickelt. Während „gefühlvolle“ und damit lyrische Tropen im Zuge der Fräuleinwunder-Literatur eine gewisse Renaissance erlebten, wird, in der jungen Literatur, überspitzt gesagt, der kurz-lakonische Carver-Satzbau bevorzugt. Insofern ist „Ohrenberg“ anzumerken, dass sein Autor auch oder vielleicht vor allem Lyriker ist: Eine absatzlose Rhapsodie, bei der einem oft die Ohren übergehen wollen und die nicht nur der Namen der Protagonisten nach Prosa-Musiker wie Thomas Bernhard oder, mehr noch, Hermann Burger beschwört. Die Handlung ist schnell erzählt: Am Ende seines Lebens macht sich Aschmann per Schiff und Bahn auf dem Weg zu seinem alten Gefährten Graf Ohrenberg, der im Thüringer Bergland in einem Funkturm haust. Die eigentliche „Action“ aber spielt sich in den Köpfen der beiden Neurotiker ab, in ihren Wahnsystemen, Erinnerungen an die Nazi-Zeit, der Flucht in die Schweiz – der Name Ohrenberg weckt nicht zufällig Assoziationen an den Bernhardschen Ohrensessel, der hier in Form einer Badewanne oder eines Zugabteils variiert wird.

 

„Ohrenberg“ kann dabei als Beispiel dienen, zu welchen Höhenflügen und Abstürzen lyrische Prosa in der Lage ist. Der Text entwickelt in zunehmendem Maße einen hypnotischen Sog, der vor allem dem komplex rhythmisierten Satzbau, dem Sprung der Erzählperspektiven und den klaustrophobischen Szenarien geschuldet ist. Häufig schießt der Roman dabei aber über das Ziel hinaus: In Namenslitaneien werden so ziemlich alle Geheimbünde beschworen, die die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts zu bieten hat, von Schreber, Rudolf Steiner, über C.G. Jung, bis zur SA. Dieses Raunen setzt sich dann bis in die Sprache fort: Sei es in redundanten Wortfolgen wie „Trauer, Trübsinn, Melancholie“, Tiefsinn suggerierenden, aber dann doch nur in Leerlauf mündenden Sätzen wie „Materie, spürt er, ihr ewiger Wandel, Zerfall, gegen die Logik des Dings, das sich erhalten will“ oder in Schwulst wie „Im Hub des Materials kann Ohrenberg einer gewissen Glorie nicht entbrechen“. Auch wenn dieser Over-the-top-Ton den exaltierten psychischen Verfassungen der Protagonisten entsprechen soll – auf Dauer haben derartige sprachliche Pirouetten etwas extrem Angestrengtes und Humorloses. Dieses Zuviel an lyrischen Mitteln ist umso bedauerlicher, als dass „Ohrenberg“ – wie z. B. in der Schilderung einer Ägyptenexpedition – viele glänzende Passagen zu bieten hat und von der Anlage her überzeugt, die allein schon in ihren autistischen Szenarien genügend Spannung besitzt, um das Buch zu tragen, das die klischeehaften Vorstöße in nationalsozialistische Vergangenheiten gar nicht bedurft hätte. Steffen Popp ist ein außergewöhnliches Talent. Vielleicht hätte er in „Ohrenberg“ nur mehr auf die Funksprüche aus dem Turm der Hauptfigur hören sollen (ein Topos, der unter seinem enormen sprachlichen und erzählerischen Potenzial bleibt) als auf die Lyra alter Dichter, die oftmals zu „raunendem Schwulst“ verleitet.

 

Thomas von Steinaecker

 

Steffen Popp: Ohrenberg oder der Weg dorthin. Roman. Kook-Books 2006

 

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