12. August 2006

Kinderalbtraum

 

Die alte Kinderangst. Du wachst auf und es ist nichts mehr so, wie es war. Deine Eltern sind weg. Du bist allein. Du hast kein Zuhause mehr. Deine Stadt gibt es nicht mehr. Du musst weg. Es ist Krieg. Dann, Jahre später, ein spätes Echo dieses Albtraums. Du schaltest am Morgen den Fernseher ein und siehst die explodierten Autos in Bagdad, die Flüchtlingstrecks im Libanon, die Einschusslöcher in den Häusern in Haifa.

 

„Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte“ des italienischen Zeichners und Autors Gipi, Jahrgang 1963, ist so ein Comic gewordener Kinderalbtraum. Ein Krieg ist ausgebrochen, zwischen wem, wann und warum genau werden wir nie erfahren. „Die Angriffe fanden in der Nacht statt. Abends stand da ein Dorf, am nächsten Morgen war’s weg“, heißt es lapidar am Anfang der Geschichte. Drei Jugendliche, der abgebrühte Stefano, genannt „Kleinkaliber“, der naive Christian und der Ich-Erzähler, das Muttersöhnchen Giuliano, ziehen durch eine postapokalyptische Landschaft, auf der Suche nach Abfall, den sie weiterverkaufen können. In einer Disco treffen sie den Veteran Felix, für den sie in einer vom Krieg noch unberührten Stadt Geschäfte erledigen werden, Botendienste, später werden sie für ihn Geld eintreiben. Die Freundschaft zwischen den Jungen, die mit jedem Auftrag skrupelloser werden und damit einen Teil ihrer Kindlichkeit verlieren, zerbricht dabei. Am Ende ziehen Kleinkaliber und Christian mit Felix in den Krieg. „Wenn du Patriot bist, darfst du machen, was immer du willst – Hauptsache du tust es fürs Vaterland“, hat er sie geködert. Giuliano erzählt nach Jahren seine Geschichte einem Fernsehteam, ohne dass er seine Freunde von damals je wieder gesehen hat.

 

Dialoge, die mit wenigen Worten starke Charaktere zeichnen, die poetischen Erzähler-Kommentare („Bei uns sind alle Dörfer nach Heiligen benannt. Wenn sie eins bombardierten, schien es, als hätte man jemandem wehgetan, nicht einem Dorf oder einer Stadt, sondern einer Person aus Fleisch und Blut.“) und vor allem die grandios-bedrückenden Tuschezeichnungen weiter Landschaften, dunkler Zimmer und kantiger Gesichter machen Gipis „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte“ zu einer höchst eindrucksvollen wie auch beklemmenden Lektüre. Neben dieser technischen Brillanz dürfte es die unmissverständliche Antikriegsbotschaft des Comics gewesen sein, die ihm 2006 auf dem angesehenen Comic-Festival in Angoulême den Hauptpreis eintrugen. Trotz seines Parabelcharakters wirkt der Comic aber nur selten, wie bei der Figur des Kriegsgewinnlers Felix, holzschnitthaft, was vor allem an seinem emotionalen Zentrum, den psychologisch ausgefeilten Jugendlichen liegt, die „nur spielen“ wollen und dabei ihre Unschuld verlieren – der Krieg der Erwachsenen, gespiegelt in einem Kammerspiel. Zwar erscheint die Kritik am kriegsgeilen Fernsehen am Ende des Comics, dem bedauerlicherweise die Seitenzahlen fehlen, im Vergleich zu der differenzierten Darstellung der Personen zuvor etwas platt; zugleich funktionieren aber die „Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte“ indirekt als Reflektion auf das eigene Medium: Besser als jede Zeitung oder jeder Film können albtraumhafte Bilder – auch wenn sie nur gezeichnet sind – eine Wirklichkeit beschreiben, die manchmal selber albtraumhafte Züge annimmt.

 

Thomas von Steinaecker

 

Gipi: Aufzeichnungen für eine Kriegsgeschichte. Avant-Verlag 2006

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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