23. Juli 2006

Flotation? Seat Cushion!

 

Am Leben bleiben mit den Rolling Stones. Von ALEXANDER SCHIMMELBUSCH

 

"In the unlikely event of an emergency, please use your seat cushion for flotation" flötet die Stimme aus dem Lautsprecher und reißt mich unsanft aus meinem Halbschlaf. Noch nicht einmal Schwimmwesten haben sie hier, denke ich mir plötzlich. Das sollten sie doch schleunigst einführen, wie bei der Lufthansa unter der Armlehne, für jeden Passagier eine, in Gelb und mit einer Warnblinkleuchte, um nach dem Absturz im Wasser die Illusion zu erzeugen, die Rettungsmannschaften könnten einen sehen, sodass man nicht in Panik gerät, denn Panik auf dem Ozean, das will die Lufthansa nicht, damit ist niemandem gedient.

 

Aber der Flug geht ja nicht über Wasser, versuche ich zu rationalisieren, und wer überlebt schon einen Absturz, und außerdem ist bei den klobigen Ledersesseln hier, in deren Konzeption offenbar kein Ergonom eingebunden worden war, ohnehin kein Platz unter der Armlehne für Schwimmwesten oder sonst irgendwas. Ich möchte schlafen, ich brauche einen Drink, um diesen Gedankenfluss zu betäuben, ich kann nicht sagen, was mich auf einmal so wach gemacht hat, irgendetwas in der Lautsprecheransage vielleicht, die mir vage bekannt vorkam und nach dem Start, als ich mir eine erste Bloody Mary bestellt habe, fällt es mir wieder ein.

 

Es muss schon einige Jahre her sein, da saß ich nachts auf einem Sofa in der Suite von Keith Richards im Palace Hotel hoch über der Lexington Avenue und ein rastagelockter Jamaikaner hatte sich neben mich gesetzt, um in regelmäßigen Abständen "Flotation? Seat Cushion!" auszurufen, nachdrücklich betont, so als sei dies sein Mantra.

 

Verloren hatte ich dort im Grunde nichts, ich war nur Statist, von der Wirtin eines heruntergekommenen Cafés in der McDougal Street eingeladen, einer dubiosen älteren Dame, die in ihrer Kaschemme ohne Lizenz schottisches Dunkelbier zapfte und mir spät abends einmal ungefragt eröffnete, dass sie in jungen Jahren einige Zeit bei Keith gewohnt hatte. So waren die Dinge damals, dachte ich mir, man nahm zu viele Drogen, kam unter die Räder und fand bei Keith Unterschlupf, ein frisches Bett und etwas Warmes zu essen.

 

Kurz darauf waren die Stones dann in der Stadt, eine Nacht im Madison Square Garden und eine im Giants Stadium und die Kneipenwirtin erteilte Weisung, mich nach dem ersten Konzert in der Halle des Palace einzufinden. Als ich durch die Drehtür das Hotel betrat, war deutlich zu spüren, dass es kein gewöhnlicher Abend war, der im Palace gerade verstrich, unter das übliche Publikum aus Geschäftsleuten und Saudis hatte sich eine fremde Gruppe gemischt, aus auf verwegene Weise verkommen aussehenden Menschen, die ihr Leben im Dunstkreis der Rolling Stones verbringen dürfen und daher, in etwa wie Vorstandskinder, eine natürliche Autorität ausstrahlen.

 

Mir ging es gut, als Nachwirkung des Konzerts waren meine Bewegungen voll sprunghafter Energie, irgendjemand drückte mir einen Drink in die Hand, der nach Champagner, Wodka und Grapefruitsaft schmeckte und ich dachte mir, dass es ohne Zweifel eine der großen Vergnügungen ist, die Stones in Amerika auftreten zu sehen, hier an ihrer heimlichen Geburtsstätte, deren Teil sie sind wie die blonden Mädchen der Strände, der leckere Speck zum Frühstück und die Fernsehkamera an der Spitze der lasergesteuerten Bombe.

 

Und während mir beim Gedanken an den Speck bewusst wurde, dass ich seit Tagen nichts mehr gegessen hatte, waren die alten Männer auch schon im Foyer zu sehen, allen voran Keith: Mit einem Blick wie ein Wegelagerer strich er mit einem Zeigefinger über den Griff des orientalischen Krummdolches, der in seinem Gürtel steckte, während er hinüber zu den Aufzügen stolzierte, dahinter Ronnie, der genügsam seinem Feldherrn folgte, und dann Charlie, der wie der Patriarch einer degenerierten Adelssippschaft wirkte, in einem Tweedjackett und mit ausdruckslosem Gesicht, als hätte das Ganze hier mit ihm nichts zu tun, als wäre er lieber in seinem Garten, hinter dem Herrenhaus, bei seinen Rosenstöcken.

 

Und dann, als Letzter: Mick Jagger. Wenig lässt sich vergleichen mit der tatsächlichen physischen Anwesenheit von Mick Jagger. Die einzige Persönlichkeit, bei der ich eine derartige Wirkung auf Außenstehende schon einmal erlebt hatte, war der in seiner erhabenen Güte einer Buddhastatue gleichende Bill Clinton, als er vor Jahren einmal in Washington eine Rede an meiner Universität gehalten hatte.

 

Entspannt und sichtlich gut gelaunt schlenderte der Präsident damals an der Empfangsaufstellung an beiden Seiten des roten Teppichs entlang, ließ die Honoratioren warten, um den Studierenden mit seinen warmen Pranken die Hände zu drücken, in ihre Augen zu blicken, mit Interesse, Verständnis und Bestärkung und jeder Einzelne von ihnen, der Aufgeklärte, der Abgebrühte, der Republikaner sogar, nahm in diesem Moment eine irrationale Erleichterung wahr: Die Probleme der Welt, das sahen sie jetzt, waren lösbar.

 

Und die jungen Frauen unter den Studierenden waren fasziniert, angezogen und abgestoßen zugleich von seinem lasziven Charme, von seiner Art, gleichzeitig mit allen von ihnen zu flirten, wirklich mit allen anwesenden Menschen auf einmal. Möglicherweise, so denke ich heute, lag diese Faszination in der damals weithin diskutierten oralen Fixierung ihres Präsidenten begründet, die viele der behüteten Mädchen ja teilen mussten, da sie von ihren Eltern in grünen Vororten mit auf den Weg bekommen hatten, dass man seine Jungfräulichkeit dem Ehemann zur Hochzeit zu schenken hat. So kommt es in Amerika ständig vor, dass sich Bob oder Dick oder Chuck über eine jungfräuliche Braut freuen darf, mit duftenden Haaren, fröhlichen Augen und dem Geheimnis von zehn Jahren oraler Erfahrung.

 

Wie auch immer, wenig später saß ich in der dreistöckigen Suite, deren Lampen mit Seidenschals verhangen waren, eingepfercht zwischen der alternden und darüber erbosten Anita Pallenberg und dem Jamaikaner, der unbeirrt immer weiter sein "Flotation? Seat Cushion!" von sich gab, und beim besten Willen konnte ich mir nicht zusammenreimen, was es damit auf sich hatte. War das irgendeine Art von Reggae-Insiderwitz, den ich nur nicht verstehen konnte? Hatte er an diesem Tag ein neues Mittelchen ausprobiert, mit dem er jetzt nicht zurechtkam?

 

Das "Flotation?" war jedes mal wie eine Anfrage betont, recht höflich sogar, dann folgte eine Pause, bevor er sich das "Seat Cushion!" zur Antwort gab, die mal väterlich, mal jubilierend, mal altklug und belehrend betont war, und als mir das irgendwann zu blöd wurde, sprang ich auf und stellte mich neben Johnny Depp, der für einen Augenblick seiner Kate entkommen war, in sein Wasserglas Wodka hinabblickte und sich gedankenverloren in den Haaren herumzupfte, vor einer aus Roomservicetischen zusammengeschobenen Bar, die mit obszönen Mengen diverser Alkoholika beladen war.

 

Schuld an dieser Fülle trug natürlich Frau Pallenberg, die ich bei ihrer telefonischen Bestellung belauscht hatte und die jetzt, wie ich über meine Schulter hinweg beobachten konnte, zufrieden das Bild des Exzesses musterte, zu dem sie beigetragen hatte, voller Vorfreude auf die Zerstörung, die sie damit bei all den labilen Charakteren auf der Party am nächsten Morgen angerichtet haben würde. Sie sah aus wie eine Hexe, fiel mir auf, und ich fragte mich, ob sie per Besen gekommen war, und sah mich um, konnte in der Suite aber keinen Besen entdecken.

 

"We need some drinks up here, boy!" hatte sie zuvor in den Hörer geschnarrt, ohne dem Roomservicemenschen darüber hinaus irgendwelche Details preiszugeben, und auf seine vorsichtige Nachfrage, was es denn genau sein dürfe, nur "Use your own discretion" erwidert und den Hörer dann fallen lassen, um mit dem Modeschöpfer neben ihr weiterhin ihre unverschämte Interpretation seiner aktuellen Kollektion zu teilen, die maskulinen Formen und restriktiven Schnitte als Manifestation des Selbsthasses auf die unterdrückte Homosexualität und so weiter.

 

So hatte sich der Roomservicemensch mit einer Situation konfrontiert gesehen, in der Eigeninitiative gefragt gewesen war, ein Hinauswachsen über den begrenzten Verantwortungshorizont, und das war für ihn sicher aufregend gewesen, selbst entscheiden zu können, was den Stones jetzt geliefert werden sollte, und er hatte das Problem sorgfältig und systematisch durchdacht. Das Resultat waren silberne Eiswannen voller Guinnessdosen und Krug Rosé, ein im Kerzenlicht funkelnder Wald aus Wodkaflaschen und genug Old Granddad, um selbst Ronnie, der sein Hawaiihemd inzwischen ausgezogen und sich in Seeräubermanier um den Kopf gewickelt hatte, ein Röcheln der Zustimmung abzugewinnen.

 

"Flotation? Seat Cushion!" schallte es weiter durch die Suite und an Herrn Depp vorbei stolperte eine junge Dame in meine Arme, sie roch gut und war angeheitert und verriet mir ihren Namen, der mir heute nicht mehr einfällt. Wie sich herausstellte, handelte es sich um die Landschaftsgärtnerin von Keith aus Connecticut, wo dieser von einem Hofstaat aus Falschmünzern, Schauspielern, Liliputanern und Juwelendieben umgeben auf weitläufigen Ländereien residiert, und ich stellte mich ihr als Andreas Baader vor, obwohl ich natürlich nicht so heiße.

 

Ich weiß nicht, warum ich immer wieder das Bedürfnis verspüre, die Außenwelt mit Desinformation zu füttern, und natürlich wissen die meisten Landschaftsgärtnerinnen aus Connecticut auch nicht, wer Andreas Baader ist, aber später, als sie mir auf der Treppe zu den Schlafzimmern das Jackett auszog, nannte sie mich Andreas, wie automatisch immer wieder, und ich dachte mir, dass Andreas doch im Grunde ein sehr schön klingender Name ist.

 

Oben im Vorraum, von dem die Schlafzimmer abgingen, kam uns dann Keith entgegen, der sich verlaufen zu haben schien, er trat an uns heran und strich seiner Gärtnerin übers Haar und wollte offenbar etwas zu mir sagen, sicher etwas nach dem Motto: "Behandle sie gut, sonst kommt dir Keith mit dem Krummdolch", das ich aber nicht verstehen konnte. Für seine Verhältnisse ist Keith nämlich schon viel zu lange am Leben, und oft vergeht eine Zeit, bis aus Gedanken, die in seinem Kopf entstehen, Sätze werden, die aus seinem Mund kommen, und manchmal kommt nichts, bis auf ein heiseres Grummeln.

 

Dann wankte der alte Mann davon, die Treppe hinab, zu seinen Gästen zurück, und als die Schlafzimmertür hinter uns ins Schloss fiel, war nichts mehr zu hören, nicht das Grummeln des Hausherrn, nicht das Schnarren Frau Pallenbergs, nicht der Ruf des jamaikanischen Gauklers, und das Zimmer selbst, dessen Außenwände aus Glas bestanden, war vom Rotlicht des auf dem Dach des Nachbarhauses montierten Leuchtschildes der Zeitschrift NEW YORK erfüllt, und jetzt, als der elektronische Gong erklingt, um uns davon in Kenntnis zu setzen, das wir auf Reiseflughöhe angekommen sind, beschließe ich, mir Kopfhörer kommen zu lassen und die Kanäle des musikalischen Unterhaltungssystems zu durchforsten, zu überprüfen, ob da nicht gerade irgendwo die Stones zu hören sind.

 

Alexander Schimmelbusch