9. Juli 2006

Das Interesse am Bösen

 

Bildungsprogramme, welcher Couleur auch immer, beruhen auf dem Prinzip der Steigerung. Ohne das Vertrauen in Besserung der menschlichen Natur, ohne die Annahme, dass, wenn einem das bei einem Einzelnen gelingt, der Weg zum kollektiven Fortschreiten eröffnet ist, gibt es keine Idee von Aufklärung. Man kann durchaus im Schlamassel anfangen, vorausgesetzt, man setzt diesen nicht mit der Erbsünde gleich, und schon kann es mit ein bisschen Erwartung losgehen. Friedrich Schiller gehört nicht zu denen, die sich den Weg in die Freiheit, die für ihn immer die der moralischen Freiheit ist, vergleichsweise lang vorstellen. Nicht umsonst gilt er als „Leistungsethiker“ im losen Verbund derer, die sich für eine bessere Gesellschaft stark machen. Schiller mag es lieber überspannt als zu lasch und friedlich. Ohne eine gewisse Herausforderung der menschlichen Natur ist der Mensch nicht wirklich Mensch, sondern bleibt eher auf der Ebene des Animalischen, das direkt reagiert, aber keine Richtung kennt. Für Schiller ist die Richtung erst dann richtig klar, wenn sie kaum noch einzuschlagen ist. Wenn es einer außerordentlichen Anstrengung bedarf, sich zumindest im Verhältnis zu sich selbst zu dieser Richtung zu bekennen. Zur Richtung, die die Vernunft in uns errichtet und die zu bekennen unsere erste und letzte Pflicht ist, wie viel Neigung auch immer dabei sei. Man musste nicht erst auf Lacans Schrift „Kant mit Sade“ warten, um auf die auf den ersten Blick erstaunliche und doch so naheliegende Koalition dieser zwei so grundverschiedenen Geister aufmerksam zu machen. Der Pathetiker Schiller hat diese Nähe auch ohne Sade gesehen. Letztlich ist „ein einziger Zug“ entscheidend, der für die Ausrichtung des Vorzeichens verantwortlich zeichnet. In dem Moment, wo die Maximen den Grad ihrer maximalen Intensität erreichen, ob es sich nun um die Befolgung des Sittengesetztes handelt oder um dessen selbstbewusste Überschreitung, so ist doch die Form beider Handlungsmaximen die nämliche, machen letztere sich doch anheischig, als Gesetz gelten zu wollen. In dieser Möglichkeit des abrupten Umschlags liegt Schillers großes Interesse am Bösewicht, den er sich gar nicht böse, oder wie er sagt: konsequent genug vorstellen kann. Schillers Bildungsprogramm ist instantan und bietet sich gerade für die Bühne zum Miterleben idealerweise an: Unser Interesse am Bösen liegt also darin, „weil es dem konsequenten Bösewicht nur einen einzigen Sieg über sich selbst, eine einzige Umkehrung der Maximen kostet, um die ganze Konsequenz und Willensfertigkeit, die er an das Böse verschwendet, dem Guten zuzuwenden.“ Anders formuliert: „…dass er durch einen einzigen Willensakt sich zur ganzen Würde der Menschheit aufrichten kann.“ Liest man hierzu den einen oder anderen Text de Sades, wird man bald feststellen, dass Schillers Logik dort nicht befolgt wird. Es wird dort vielmehr immer nur noch schlimmer. Man hat dort überhaupt kein Interesse daran, den Umschalthebel umzudrehen. Denn dann wäre das Stück aus. Sades Logik besteht nicht in Umkehrung und plötzlicher Positivierung, sondern in ständiger Abwechslung von kruder Handlungssequenz und auf diese bezogener Reflektion. Auf seine Art ist er genauso aufklärerisch wie Kant. Da ist nichts, was nicht mit Bedacht geschieht. Es wird alles gerechtfertigt. Nichts bleibt unkommentiert. De Sades Figuren agieren schon aus der Freiheit heraus, zu der Schiller seine Figuren und durch sie hindurch die Zuschauer erst erziehen will, und sei es mit einem coup de foudre. Bei Schiller führt alles auf dieses Ende hin, über das hinaus eigentlich nicht so recht klar ist, was danach noch kommen soll, denn der normale Mensch bringt nicht sein ganzes Leben in erhabenen und pathetischen Situationen zu. Das Gute Schillers braucht den ständigen starken Widerstand. Die Figur bei de Sade kann immer böse sein, auch wenn sie mit sich allein ist. Demjenigen, der den Mechanismus entwickeln und zum Funktionieren bringen könnte, nach der ein Schiller’sches Damaskus möglich sein würde durch die wunderbare Entwicklung einer „einzigen Umkehrung“, müsste ein großer Preis gebühren. Das einzige Problem dabei: Es gibt gar nicht so viele interessante Bösewichter, für die sich eine solche Erfindung lohnen würde. Der Normalsterbliche fantasiert sich lieber mit „einem einzigen Zug“ ins bequeme Reich des Angenehmen, von dem Schiller sagte, dass es mit der Kunst auch nicht das Geringste zu tun habe. Wir sind noch weit von der Aufklärung entfernt.

 

Dieter Wenk (06.06)

 

Friedrich Schiller, Über das Pathetische, in: F.S., Über das Schöne und die Kunst. Schriften zur Ästhetik, München 1984 (dtv)