9. Juli 2006

Elitärer Gürtelverleih

 

Während sich Schönheit auch auf das Tierreich und die Pflanzenwelt erstrecken kann, muss man nach Schiller mindestens Mensch sein, um Anspruch auf Anmut zu erheben. Doch dann wäre es schon zu spät, denn Anmut zeigt sich, wird wahrgenommen, wer darauf spekulierte, würde schnell als Poser entlarvt. Es liegt ganz in dieser Logik, dass im griechischen Mythos Anmut nicht frei verfügbar ist. Aphrodite, Göttin der Schönheit, trägt einen Gürtel, der dem, der ihn von ihr verliehen bekommt, Anmut verspricht. Erstaunlich, so Schiller, dass Schönheit allein manchmal nicht ausreicht – und wer war schön, wenn nicht die Griechen. Anmut fügt Schönheit also etwas hinzu, das nicht zur natürlichen Grundausstattung letzterer gehört. Anmut geht nicht in dem auf, was Schiller „architektonische Schönheit“ nennt, die natürliche Mitgift, bevor diese humanistisch veredelt wird. Mit dem Attribut des Gürtels schafft der Mythos eine seltsame Eigenschaft mit Namen Anmut, die man ablegen oder anlegen kann, ohne dass man etwas von seiner Substanz verliert. Fast könnte man Anmut ein Übergangsobjekt nennen, wenn man nicht theoretisch immer wieder auf sie zurückkommen könnte. Aber was ist das für eine Eigenschaft, die man als Gürtelträger da hat und die einen anmutig nicht nur scheinen, sondern eben sein lässt? Und die im nächsten Moment schon wieder abgetrennt werden kann. Für Schiller ist Anmut eben keine natürliche Eigenschaft – denn dann bräuchte man gar keinen Gürtel und noch weniger die Gunst einer Göttin. Anmut wirkt magisch, sie ist nicht übertragbar, vielleicht auch nicht wiederholbar, sie lässt sich zuschreiben im konkreten Moment, ist darüber hinaus aber nicht frei verfügbar. Als „bewegliche Schönheit“, so Schillers Definition, ist Anmut ein Spezialfall von Schönheit als „Freiheit in der Erscheinung“. Schon in seinem „Kallias“ hatte Schiller mit der Schwierigkeit zu kämpfen, welcher Status der Schönheit zuzuschreiben sei; er suchte einen objektiven Schönheitsbegriff, und musste doch auf den bloßen Schein sich beschränken. Diese seltsame „extime“ Figur wiederholt sich im Fall der Anmut. Sie ist das Allerfernste (im Besitz der Göttin) und das Allernächste (trägt man selbst den Gürtel, sticht Anmut alles aus, sie wird zum primären Qualifizierungsmerkmal, das uns doch nicht ausmacht). Anmut ist zugleich heimatlos und gebieterisch. Sie ist etwas, das nicht von uns selbst anheim gestellt werden kann. Man wird geradezu eingeladen, an Jacques Lacans so genannte „Objekte klein a“ zu denken, die keine Objekte im ontischen Sinn darstellen, sondern die genau durch die merkwürdige Abtrennbarkeit gekennzeichnet sind, die aus ihnen eine Eigenschaft und etwas ganz und gar Zufälliges machen. Der Säuger erkennt die Mutter nicht als Träger der Brust, die es vielmehr als von ihr lösbar „erkennt“. Die Faeces stammen von mir, müssen aber doch verabschiedet werden. Der böse Blick wirkt bei manchen, bei manchen nicht. Für Schiller ist der Gürtel ein Symbol dafür, dass die Begrenztheit unseres Darstellungsvermögens uns dazu zwingt, „in der Natur“ einen Ausdruck dafür zu suchen, „was außerhalb der Natur im Reiche der Freiheit liegt“. Und Anmut ist eben ein solches freies Phänomen, das sich niemals wird antrainieren lassen. Und: Anmut ist weiblich. Männer bewegen sich nicht. Für sie ist Würde da, im Vergleich zur Anmut ein etwas unbequemerer, ins Masochistische spielender Zug. Wer das raus hat, hat viel Erfolg. Und kriegt dafür viele Tapferkeitsmedaillen.

 

Dieter Wenk (06.06)

 

Friedrich Schiller, Über Anmut und Würde, in: F.S., Über das Schöne und die Kunst. Schriften zur Ästhetik, München 1984 (dtv)