4. Juli 2006

Freundliche Übernahme?

 

Sigmund Freud musste erst die Neurologie an den Nagel hängen, bevor er die Psychoanalyse erfand. Er scheiterte bei dem Versuch, psychische Ereignisse physiologisch verorten zu wollen. Davon zeugt sein „Entwurf“ aus dem Jahr 1895, postum, 1950, veröffentlicht. Die Biologie seiner Zeit war noch nicht so weit. Hundert Jahre später sieht die Sache ganz anders aus. Das behauptet der Neurowissenschaftler Eric R. Kandel. Die Psychoanalyse habe viel versprechend angefangen, sie habe interessante Fragen gestellt und sie habe eine komplexe, mentalistische Theorie des Geistes aufgestellt. Sie habe es aber nicht zu einer anerkannten Wissenschaft gebracht und sich schon seit längerem nicht mehr weiterentwickelt. Außerdem schotte sie sich ab und ignoriere neueste wissenschaftliche Errungenschaften wie etwa die Kognitionswissenschaft und die Neurobiologie, die im Grunde würdige Kandidaten wären, das anfängliche Freud’sche Projekt einer Physiologie des Geistes oder einer Neuro-Analyse fortzusetzen. Kandel wirft also der Psychoanalyse vor, sich nicht mit dem Gehirn auseinander zu setzen, wo für ihn klar ist, dass alle Aktivitäten des Geistes sich Prozessen im Gehirn verdanken. Kandel kommt von der Lernpsychologie und macht keinen Hehl aus seinem reduktionistischen Ansatz. Das Nervensystem der von ihm untersuchten Riesenschnecke Aplysia ist etwas anderes als das menschliche, und doch glaubte Kandel zeigen zu können, dass gewisse basale Phänomene im Nervenkostüm beider Systeme sich relativ ähnlich beschreiben ließen. Experimentell ermittelte Reiz-Reaktionsschemata bestärkten Kandel in der Ausgangsannahme, dass neuronale Mechanismen sich – unabhängig von der Komplexität des beobachteten Systems – im Gehirn verorten lassen. Bei Aplysia ließen sich die zellulären und synaptischen Veränderungen sogar unter Mikroskop beobachten. Experimente mit Affen konnten beweisen, dass künstlich erzeugte Habituierung (dauerhafte Verminderung der Reizschwelle) und Sensitivierung (Erhöhung der Reizschwelle) im kritischen Alter bei Kleintieren dauerhafte Schäden im neurologischen System verursachten. Kandel spricht immer wieder von bildgebenden Verfahren, die noch in den Kinderschuhen steckten, von denen aber sehr viel zu erwarten sei. Mit solchen neuronale Mechanismen im Gehirn aufzeigenden bildgebenden Verfahren ließen sich etwa psychotherapeutisch induzierte Veränderungen erkennen. Das Gehirn wäre nicht länger eine black box, sondern der immer genauer zu erforschende Ort, an dem sich das abspielt, was wir unsere Realität nennen. Auch früher so genannte „funktionelle“ Geisteskrankheiten wie Schizophrenie hätten ein organisches Substrat, etwa in den Genen, deren „Fehlerhaftigkeit“ durch Mutation sich pharmakologisch beeinflussen lasse. Grundsätzlich geht es also um biologisch fundierte Steuerungsmöglichkeiten in Bezug auf das Gehirn, in dessen komplexe molekulare Struktur man sich eine wachsende Einsicht erhofft verbunden mit der Möglichkeit, durch bestimmte Inputs bestimmte Outputs zu erreichen. Verglichen mit psychodynamischen Konzepten der Psychoanalyse hört sich das (noch) ziemlich abenteuerlich an. Lässt sich eine Therapie oder eine Analyse neurologisch abstimmen? Lässt sich der Begriff des Unbewussten sinnvoll kognitionstheoretisch übersetzen? Das ist sicherlich noch Zukunftsmusik. Kandel bringt aber überzeugende Argumente mit, dass sich Psychoanalytiker und Psychiater nicht länger vor den rasanten Fortschritten auf dem Gebiet der Hirnforschung abschotten sollten. Das Gehirn ist eine formbare Masse, irrsinnig komplex, aber man hat ja erst angefangen, den Geist in neuen Termini zu beschreiben. Ein Gedicht wird auch nach wie vor ein Gedicht bleiben, aber schon vor knapp zweihundert Jahren hätte ein Autor wie Georg Büchner, natürlich Mediziner, doch ganz gerne mal einen Blick hinter die Kulissen, sprich ins Gehirn, getan. Die Aufsätze von Kandel sind ziemlich aufregend zu lesen, man wird sehen, ob die Neurobiologie die Psychoanalyse ins Boot zwingen wird.

 

Dieter Wenk (06.06)

 

Eric R. Kandel, Psychiatrie, Psychoanalyse und die neue Biologie des Geistes, aus dem Amerikanischen von Michael Bischoff und Jürgen Schröder, Frankfurt am Main 2006 (Suhrkamp); gegenüber der Originalausgabe um zwei Kapitel gekürzt

 

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