4. Juli 2006

Der Traum der schneeweißen Pillen

 

August und Edevart sind die beiden Helden dieses ersten, 1927, ein Jahr später auch in deutscher Übersetzung erschienen Teils der so genannten „Landstreicher“-Trilogie. Schauplatz sind mehrere Orte in Norwegen, nur an einer Stelle gibt Hamsun einen Hinweis auf die Zeit, in der der Roman spielt, die Rede ist dort vom deutsch-französischen Krieg (1870/71). Die beiden Helden sind unruhige Geister, August noch mehr als der andere, er hat schon die ganze Welt gesehen, wie er behauptet. Die beiden ziehen manchmal zusammen los, machen gemeinsame Geschäfte, dann ist wieder jeder für sich verantwortlich. August ist unbeschwerter, nimmt nichts wirklich ernst, wenn ihn eine Frau um den Finger wickelt und sitzen lässt, lacht er noch dazu. Diese Leichtigkeit hat Edevart nicht. Die Liebe zu einer verheirateten Frau nimmt ihn mit, wohin er auch geht. Fast zerbricht er daran. Er hat sonst nicht viel im Kopf. August ist wendiger. Er denkt sich immer selber Sachen aus, mit denen er Geld verdienen kann, Billigjobs eingeschlossen, wenn er keine Wahl hat. Es gibt hier nur Selbsthilfe oder die der Familie. Oder Auswanderung, nach Amerika. Als August und Edevart am Ende des Romans mal wieder aufeinander treffen, erzählt der Weltenbummler, über was er gerade nachdenkt: „… es handelt sich um Pillen, die die Frauenzimmer einnehmen sollen, damit sie keine Kinder kriegen. Ich habe es schon einmal dir gegenüber erwähnt, aber du wolltest nichts davon wissen.“ Edevart will auch jetzt nichts davon wissen, ein fliegender Händler und Fischer ist ja kein Chemiker. Im Gegensatz zu Edevart ist August stark beeindruckbar, auch wenn er nicht viel versteht. Die Sache mit den Pillen ist zwar auch für ihn nicht direkt umsetzbar, aber es geht ihm im Kopf herum. Auf einer seiner Reisen begegnete ihm ein Steuermann, „der eine Flasche mit schneeweißen Pillen hatte, sie enthielten Quecksilber, und er verwendete sie bei seiner Frau, wenn er daheim war, sagte er. Aber er wagte nicht die Flasche daheimzulassen, denn sonst hätte ja seine Frau überall hinlaufen können und hätte nur die Pillen essen brauchen, während er fort war. Er zeigte mir die Flasche, es stand ,Secale cornutum’ auf dem Schild. Das habe ich die ganze Zeit im Gedächtnis behalten.“ Es brauchte noch ziemlich genau 80 Jahre, bis Carl Djerassi die Anti-Baby-Pille erfand (1951), aber sie spukte natürlich schon lange in den Köpfen herum und man half sich mit anderen Mitteln aus, beispielsweise mit Abtreibungsmitteln wie dem von August genannten „Secale cornutum“, anders bekannt unter dem Namen Mutterkorn. Mutterkorn ist ein Parasit, der vor allem Roggen als Pilz befällt. Das mit Roggen zu Brot verarbeitete Mutterkorn hat schädliche Wirkungen wie zum Beispiel Brand, was zum Abfallen von Fleisch von den Knochen führen kann, eine tödliche Krankheit, die vor allem im Mittelalter auftrat, wo man den Nexus von Mutterkorn und Brand (Ergotismus), Epilepsie oder Geisteskrankheit noch nicht kannte. Mutterkorn setzte man aber auch schon lange als wehenstimulierendes Mittel ein – die im Mutterkorn befindlichen Alkaloide verursachten Kontraktionen der Gebärmutter. Hamsun wird an besagter Stelle nicht deutlicher, wie die schneeweißen Pillen zum Einsatz kommen, aber August stellt sich ihn schon genau so vor, wie die „Pille“ später tatsächlich genutzt wird, einfach schlucken. So einfach hat es „Secale cornatum“ damals den Frauen nicht gemacht, es war nicht präventiv, sondern „therapierend“, es sollte die Schwangerschaft vorzeitig abbrechen, die eine oder andere Frau mag dabei gestorben sein. August weiß davon nichts, er fantasiert, wie so oft: „Du liebe Zeit, wie viele solcher Pillen könnte ich hier verkaufen, an alle die jungen Burschen – ach ja, an die Mädchen auch, wenn man’s genau betrachtet!“ Bezeichnend, dass er erst an die Männer denkt, der Nachsatz bringt dann aber doch die entscheidende Gewichtung. Die Sekale-Alkaloide leiten sich chemisch von der Lysergsäure ab und finden noch heute Verwendung in der Medizin. Viel bekannter als diese bei Migräne oder Parkinson eingesetzten Mittel ist jedoch ein anderes Lysergsäure-Derivat: Lysergsäurediethylamid, kurz LSD genannt.

 

Dieter Wenk (06.06)

 

Knut Hamsun, Landstreicher. Roman, München 1929 (Albert Langen)