21. Juni 2006

Auf Wiedersehen

 

„Der Freund“ wird die Zeitschrift des Abbruchs gewesen sein. Eines zwar von Anfang an angekündigten, aber deshalb doch nicht weniger schmerzhaften. Die zwei Jahre sind also um (den ganz Traurigen sei die letzte Zeile auf Seite 25 dieser Ausgabe empfohlen, vielleicht geht ja wirklich noch was). Abbruch aber auch noch in einem anderen Sinn. Hat man jemals schon so viele Rubriken als „Folge eins“ gelesen, die fortsetzungslos blieben? Oder müssen wir uns Rafael Horzon einfach als Muster in Umtriebigkeit vorstellen. Der Mann auch mit den meisten neuen Frisuren. Und wie um Sand in die Augen zu streuen (der Leser wird es schon nicht merken), lesen wir auf Seite 41 unter dem Titel „Meine Sekten“ Horzons angeblich „letzte Folge: Eine Woche Scientology“. Die Rubrik „Meine Sekten“ hat es jedoch vorher nie gegeben (Gott sei dank?). Aber seien wir gerecht. Es gibt auch Gegenbeispiele. Etwa Eva Munz’ Porträt-Rubrik „Damen, die ich kannte“, der immer dialogisch gestaltete authentische Blick in die Welt der „Männer bei der Arbeit“ oder die sehr eigenwillige Testreihe des Lesers, dem hier ein Profil abverlangt wurde, auf das psychiatrische Gutachten einfach nur neidisch sein können. Wie groß aber wäre das Geschrei der Leserwelt des „Freundes“ gewesen, wenn sie die Briefe ihrer wach-kritischen Kollegen nach ein, zwei Ausgaben nicht mehr hätten lesen dürfen. Die Leserbriefe (hier unter dem schönen Titel „Briefe, die wir noch nicht beantwortet haben“) sind das A und O von Zeitungen und Zeitschriften. Wer weiß, ohne diese Zeugnisse engagierter Teilhabe, die zudem ein wunderbares Identifikationsangebot für all die abgaben, die nicht abgedruckt wurden oder auch gar nicht geschrieben hatten, wäre „Der Freund“ vielleicht eine Spur zu überheblich, in seiner Kompromisslosigkeit etwas zu arrogant gewesen. Natürlich denkt jetzt jeder, zu Recht, an die Interviews. Und natürlich wusste auch „Der Freund“ selbst, was das für ein Einsatz und eine Zumutung war. Was zum Beispiel hat uns ein 80-jähriger Alain Robbe-Grillet auf sage und schreibe 20 Seiten (ein Viertel des ganzen Textquantums) noch zu sagen. Überhaupt, es waren Gespräche mit Moribunden oder jetzt bereits Toten. Die Weisheit des Alters? Vielleicht doch der entschiedene Wille, Essenzen auf unterschiedlichen Gebieten zu sammeln und der hungrigen Leserschaft zu verabreichen? Oder muss man nicht eher vom Versuch subkutaner Infiltration sprechen: Sekten, David Lynchs Eloge auf transzendentale Meditation… wenn da nicht abschließend Nam June Paiks ergreifend unsinniger Text stünde, der der Rede von Interpretationsvielfalt schlicht den Boden entzieht. Bei aller Abseitigkeit des „Freundes“: die Grenzen, die er überschritt, wurden zu lieben Gewohnheiten (keine Fotos, keine Anzeigen, kein Zeitgeistgeplauder). Und so jung, wie er jetzt zu Grunde geht, hat er sich nicht davor gescheut, den Blick nach ganz weit zurück zu werfen wie in dieser letzten Ausgabe: das alte Ägypten, ein weit mehr als bildungsbürgerlicher Blick hinter die Kulissen und unter die Haut (Stichwort „Mumie“). Indirekt erkennt man: Nur das abgleichungsunwillige Neue sieht richtig alt aus. Es ist nicht wenig, auf das wir verzichten müssen: ein immer wieder überraschendes Cover, die nicht nur bequeme Polsterung durch rekurrente Illustrierungen, die quasi brechtianische Vorwegnahme der Diskussionspunkte zwischen Titel und Text, die den Blick des Lesers vor allem auf die Machart des Textes lenkte (und dass sich jeder Text einer Auswahl verdankt; was man auslässt, ignoriert, ist fast so wichtig, wie das, was man bespricht), die sympathische Präsentation der Mitarbeiter der Ausgaben, von denen man in jeder neuen Ausgabe Neues erfuhr, und nicht zu vergessen der unruhige Gang zum Kiosk, an jedem 15. eines weiteren Vierteljahres, ob der neue „Freund“ schon da ist. Vielleicht hat „Der Freund“ ein Einsehen? Wird es einen Nachschlag geben? War die Begrenzung nur ein genialer PR-Coup? Diente der angekündigte Abbruch nur einer großartigen Luststeigerung? Wir werden es wissen, spätestens am 15. September, einem Freitag, wenn die Rollläden herunter gelassen worden sein werden und wir uns fragen müssen, wie wir jetzt weitermachen, mit einem Freund weniger.

 

Dieter Wenk (06.06)

 

Der Freund, Nr 8, hg. von Christian Kracht