15. Juni 2006

Handliche moderne Klassik

 

Er war in München und Berlin u.a. im Fach Medizin immatrikuliert, erzielte seinen entscheidenden literarischen Erfolg 25-jährig mit einer „Flibustiergeschichte“, lebte als Kosmopolit u.a. in Dänemark, Schweden und den USA, liebte den Boxsport und Friedrich Nietzsche und starb als österreichischer Staatsbürger. Die Rede ist natürlich von Bertolt Brecht, von dem man in diesem vorzüglichen, knapp und kompetent unterrichtenden Lexikon auch ein paar Dinge erfährt, von denen man vielleicht noch nichts wusste. Und so erfährt man denn auch, dass Brecht das Medizin-Studium wohl nur vorschützte, um nicht noch als Soldat auf den Schlachtfeldern des ersten großen Krieges zu sterben. Die oben erwähnte Geschichte, „Bargan lässt es sein“, 1921 im „Neuen Merkur“ veröffentlicht, kennen heute wohl nur noch Brecht-Spezialisten, zu sehr ist uns Brecht heute vor allem als Gedicht- und Stückeautor bekannt. Und der Kosmopolit Brecht war dies nur gezwungenermaßen – als Exilant (und nicht als „Emigrant“), einlässig werden die verschiedenen Exilländer und -Orte und Brechts dortige Existenzbedingungen geschildert, der Verlust der Einnahmequellen durch Tantiemen durch die Ausbürgerung 1935, die fatale Situation gerade für einen Theaterautor in fremden Ländern. Erst 1979 durch Reinhold Grimms Essay zu Brechts Nietzsche-Rezeption wurde in Ost und West zum ersten Mal klar, in welch bedeutendem, wenn auch nicht systematischem Maß Brecht ein begeisterter Nietzsche-Leser war, der sich nahm, „was er brauchen konnte“. Und der Österreicher Brecht? Brecht verließ 1947 die USA (einen Tag nach seinem Verhör vor dem „HUAC“) und kam nach Europa, zunächst in die Schweiz, als Staatenloser. Da sich Reisen nach Berlin als schwierig erwiesen, sah sich Brecht nach entsprechenden Maßnahmen um; so wurde er Österreicher, bevor er in der DDR als Doppelstaatler geführt wurde. Was dieses Lexikon vor allem mitteilt, neben Auskünften zu Stücken, wichtigen Gedichten, Freunden, Mitarbeitern, Frauen (das war oftmals eine Kategorie), Vorlieben (Autos, Zigarren), Rezeption (national und international) und Einflüssen Brechts ist, dass es zu diesem Autor nicht mehr so viel Neues zu sagen gibt. Brecht ist ein Klassiker, seine Werke liegen in einer 30-bändigen historisch-kritischen Ausgabe seit 2000 vor, es existiert ein Brecht-Handbuch, in dem keine Frage offen gelassen wurde und auch die letzte Schlacht, in der es um die Frage der Beteiligung von Brechts Frauen bei seiner literarischen Arbeit ging, scheint geschlagen, wenn auch nicht einhellig beurteilt. Und doch macht es Spaß, in dem Lexikon zu blättern. Man erfährt, dass Brecht vor allem seine Theatertexte oft umgeschrieben hat (etwa „Mutter Courage“), um sie neuen Situationen anzupassen; dass Brecht wenn nicht der Erfinder so doch einer der Väter des modernen Regietheaters ist (unter dem Lemma „Dialog über die Schauspielkunst“), eine Einschätzung, die relativiert wird durch Brechts eigene Kanonisierungen und Festschreibungen (etwa „Couragemodell 1949“); oder auch, wie manche Beschäftigungen Brechts mit Stoffen nur unter den gegenseitigen Ausbeutungsmechanismen der Exilzeit zu verstehen sind (Elisabeth Bergners Hinweis auf die „Duchess of Malfi“). Das Lexikon gibt überdies Gelegenheit, manche Vorurteile zu korrigieren, etwa Brechts angebliche Unterstützung der Maßnahmen gegen den Aufstand der Arbeiter am 17.6.1953 oder seine ungebrochene Bewunderung Stalins. Gleichwohl hatte Brecht anscheinend – anders als Thomas Mann, der klugerweise als Preisträger den Rückzug angetreten hatte – keine Scheu, 1954 den Stalin-Friedenspreis anzunehmen. Die verschiedenen Autoren der über 350 Artikel halten sich diskret zurück bei der Frage, wie denn nun Brechts Werk, also vor allem seine Lyrik und seine Dramatik, zu bewerten sei. Dass Brecht einer der (trotz Exil) erfolgreichsten und anerkanntesten Autoren des 20. Jahrhunderts war, muss aber auch gar nicht mehr bewiesen werden. Für ein Lexikon liegt das Buch sehr gut in der Hand, und Abbildungen (etwa von Brechts Autos) gibt es auch zu sehen. Chronik und Literaturhinweise schließen das knapp 300-Seiten starke Buch ab.

 

Dieter Wenk (06.06)

 

Ana Kugli/Michael Opitz (Hg.), Brecht Lexikon, Stuttgart, Weimar 2006 (Metzler)

 

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