10. Juni 2006

Die Macht der kleinen Mädchen

 

Der Beginn des Films führt großartig, wenn auch nur kurz, in die Irre. Man glaubt sich sofort in einem Agenten- oder Spionagefilm. Ein Blick auf einen in einem Karteikasten blätternden Mann, sein irritierter Blick (wurde er überrascht?), eine Art Fluchtbewegung, ein Polizist, der einen Gang entlang läuft, dann ein Zimmer, mehrere Menschen liegen auf dem Boden, die Kamera nähert sich einem Mann, der in Abwehrstellung, verängstigt, um sich schaut. Das alles in Zeitlupe. Und schwarzweiß. Dann geht es woanders weiter, und in Farbe. Ein großes Polizeiaufgebot vor einem Gebäude, einer Schule. Eltern nehmen ihre Kinder in Empfang. Das Ende eines Geiseldramas? Schließlich die ersten Sätze der ermittelnden Polizei. Bereits drei Kinder wurden entführt, vergewaltigt und bestialisch ermordet. Einem vierten Kind schauen wir mit ungutem Gefühl zu, wie es allein seinen Heimweg antritt. Das kann nicht gut gehen. Und es geht nicht gut. Aus scheinbar unüberwindbarer Entfernung sehen wir dem bösen Mann zu, wie er das Kind anspricht, das mit ihm geht. Kurze Zeit später wird ein Kind vermisst gemeldet. Bei der sich anschließenden nächtlichen Suchaktion findet Sergeant Johnson (Sean Connery) das Kind, lebend. Die Suche des Sergeanten sieht nach etwas anderem aus als einem bloßen Glücksfund. Das kleine Mädchen und der Polizist scheinen sich schon ein wenig zu kennen. Der ermittelnde Kommissar lässt das Gebiet nach verdächtigen Personen absuchen. Ein etwas seltsam sich gebarender Mann mittleren Alters wird aufs Revier gebracht und verhört. Auch Sergeant Johnson nimmt ihn sich vor. Doch erst einmal lernen wir die ehelichen Verhältnisse des Sergeanten kennen. Nach dem Verhör, das in Rückblende nachgereicht wird, kehrt Johnson nach Hause zurück, trinkt einen Whiskey nach dem anderen und ist völlig verstört. Seine Frau will, dass er sich ihr anvertraut. Dabei erfährt man, dass Johnson sich von seiner Frau allenfalls sexuell geduldet fühlt. Die er wiederum weder schön noch hübsch findet. Johnsons Kopf ist schwer. Aber nicht vom Alkohol. Wüste Bilder von kleinen, toten und lebenden Mädchen schießen durch seinen Kopf. Ein übler Ringelreih’. Dann wird Johnson von Kollegen abgeholt. Ein grandioses Szenen-Abschlusstableau seiner Frau im Wohnzimmer vor den wie Geistertücher wirkenden Fenstern kündet vom intimen und imaginären Desaster der Figuren. Und jetzt, wo eigentlich schon alles klar ist, folgt das illegale Verhör Johnsons mit dem Verdächtigen, illegal, weil kein Dritter dem Verhör beiwohnt, den wachhabenden Polizisten hatte Johnson vorsorglich und auf eigene Verantwortung weggeschickt. Man weiß jetzt, dass Johnson eigentlich keine Chance hat. Was jetzt folgt, ist die Abrechnung eines Wahnsinnigen mit sich selbst in Form eines Stellvertreters. Und dieser Stellvertreter, dieser Sündenbock merkt bald, wie ihm geschieht. Auch er wird keine Chance haben, falls es ihm nicht gelingt zu fliehen. Um was es in der jetzt noch verbleibenden kurzen Zeit geht, ist der Kampf um die Deutungsmacht des Geschehens. Der Verhörte weiß, dass er physisch unterlegen ist. Also bleibt nichts als die Genugtuung, dem anderen die Maske vom Gesicht zu reißen, ihn mit seinem schrecklichen Ego zu konfrontieren. Mit tödlicher Gewissheit gelingt ihm das. Johnson tötet gewissermaßen zweimal. Einmal, um den „Täter“ zu beseitigen, dann, weil sein Trick von eben diesem durchschaut worden ist. Und erst jetzt sieht man die Bruchstücke vom Anfang des Films in ihrem Zusammenhang. Enttarnung eines sehr sonderbaren Doppelagenten. Und schließlich immer wieder die Bilder des kleinen Mädchens in Schuss und Gegenschuss mit Johnson, aber diesmal nicht schreiend, sondern Johnson glücklich anlächelnd, allerdings immer noch in liegender Position. Ein Kompromiss. Zu wenig. Zu spät.

 

Dieter Wenk (06.06)

 

Sidney Lumet, Sein Leben in meiner Gewalt (The Offence), USA/GB 1973, Sean Connery, Trevor Howard, Vivien Merchant