6. Juni 2006

Gewinn von Hopfen und Malz

 

Manche dieser elf hier versammelten Erzählungen lesen sich wie ein etwas zu sehr in die Länge gezogener Witz, dessen Pointe ziemlich abstrus ist und man sich fragt, auf welchem Register der Ernsthaftigkeit dieser Autor spielt. Mehr als einmal sagt man sich, dass das doch nicht wahr sein darf. Dass man so etwas Bescheuertes schon lange nicht mehr gelesen hat. Irgendwie hat das mit der zunächst eigenen unsicheren Datierung Panizzas zu tun. Er ist älter als man glaubt (1853-1921), und die Rückdatierung wird noch einmal in die Vergangenheit verlängert durch eine scheinbar anachronistische Situierung des Schauplatzes der Erzählungen, die mehr mit den Märchen E.T.A. Hoffmanns untergründig kommunizieren als mit den realen historischen Gegebenheiten der Wilhelminischen Epoche. Allenthalben stößt man auf Puppen, Automaten, seltsam animiertes Porzellan, die Libido pubertierender Knaben anzapfende Schaufenstermannequins, sprechende Hunde, sexualisierte Pflanzen, die Gerichtsdiener in den Wahnsinn treiben, Theologieprofessoren, deren historische Mission darin besteht, die Nacktheit dem Menschen auszutreiben und die davon träumen, die menschliche Haut mit der Kleidung von Geburt an zu vernähen (erzählt wird diese Geschichte in Schweizer-Deutsch, und hier weiß man wirklich nicht, in welche Richtung diese Brecht’sche Verfremdung avant la lettre losgeht). Ich weiß nicht, ob Susan Sontag diesen Autor in ihren Camp-Katalog aufgenommen hat, er würde gut dorthin passen. Der Erzähler goutiert schon rein sprachlich den Aberwitz zwischen subjektiver Wahrnehmung des (Anti-)Helden der Geschichte und den Tatsächlichkeiten, die den Wahrnehmungen oft grausam Hohn sprechen. Der Erzähler arbeitet gewissermaßen in Zeitlupe, wo wir heute eine bestimmte Grundgeschwindigkeit gewöhnt sind, falls wir nicht anders instruiert werden. Mit dieser Langsamkeit hat der heutige Leser seine Schwierigkeiten, er weiß schon zu viel und zu früh Bescheid, und das Auskosten der Wegstrecke (das Erzählte) arbeitet sich oft ab an einer Infantilität oder Abgeschmacktheit, dass man eben gleich am Besten die Erzählung als Camp nimmt und die Schwerpunkte verlagern kann. Am besten funktioniert vielleicht auch heute noch die Erzählung „Stoßseufzer aus Bayreuth“, die den Wagnerkult beleuchtet und man merkt, dass auch heute noch mit den nämlichen Argumenten gefochten wird. Hier ist Panizza am wenigsten altmodisch und verstaubt, hier wird man sich das eine oder andere witzige Wort für den nächsten Opernabend herausnehmen. Auf jeden Fall sollte man die Erzählung „Der Korsetten-Fritz“ lesen, es gibt hier Stellen, die man auch nach mehrmaligem Lesen nicht wirklich vor die Vorstellungskraft gebracht haben wird und die insofern genau die Verstörung eines 15-Jährigen angesichts der Geschlechtertrennung und der Erfahrung eines geraubten Liebesguts trifft, die den Erzähler zu sensationellen Formulierungen anregen. Im Grunde ist also genügend Stoff da, um sich von dieser Auswahl großartig amüsieren zu lassen, und man sollte nicht zu schnell überheblich werden und sagen, dass uns das nichts mehr angeht; Panizza fährt mehr oder weniger gewollt auf einer Retro-Schiene, manchmal direkt hinein ins Irrenhaus, wo er auch schließlich landete.

 

Dieter Wenk (05.06)

 

Oskar Panizza, Die Menschenfabrik und andere Erzählungen, hg. von Walter Rösler, Berlin 1984 (Buchverlag Der Morgen)