22. Mai 2006

Mottenpulver

 

Es wird gekramt in der Gegenwartsliteratur. Letztes Jahr suchten Eva Menasse, Gila Lustiger, Sabine Schiffner, Arno Geiger, aber auch Jonathan Safran Foer und Rosalinde Krauss auf Speichern und in Kellern nach der Vergangenheit – und es zeigte sich: Das Medium Nummer 1 derer, die in den Sechzigern oder später geboren wurden, ist heute, in Zeiten des Internets, die gute alte Schwarzweißfotografie, vorzugsweiße in unscheinbaren Schachteln verpackt, aus denen es, wenn man sie öffnet, nach Mottenpulver riecht oder besser: nach dem »Dritten Reich«. Staunend betrachten die Enkel dann den Opa im Schtetl oder in der Wehrmachtsuniform, auf Urlaub zu Hause bei den Seinen, mit ausgezehrtem Gesicht, die eigene Mutter, als kleines Mädchen, in der BDM-Tracht. Die Texte, zu denen diese Bilder Anstoß geben, nehmen dann entweder wie bei Foer und Krauss den Holocaust oder den Feuersturm von Dresden lediglich als Vorwand, um ein Sprachfeuerwerk abzuzünden; oder sie erzählen wie hierzulande solide – man könnte auch sagen: brav – die mehr oder weniger bekannten Geschichten der Großeltern. Statt amerikanischer Zuckerwatte gut verdauliche deutsche Hausmannskost.

 

Einer, der schon ein Jahrzehnt vor dem neuerlichen Erinnerungsboom der Enkel, die Reflexion über die Medien mit deutscher Geschichte verband, ist (neben dem mit gehöriger Verspätung und erst nach seinem Tod zum Longseller-Autor avancierten W. G. Sebald) Marcel Beyer. Nach den akustischen Medien in Flughunde waren es in Spione Fotos, die mit dem Text kurzgeschlossen wurden und in die Zeit des »Dritten Reichs« führten. Zwischen einem Lyrikband, einem Buch mit Aufsätzen und einem schon seit längerem angekündigten Roman über Dresden hat jetzt der DuMont Verlag in seiner Jubiläumsreihe »Speicher« die 60seitige Erzählung Vergeßt mich veröffentlicht. Und wieder stehen Fotos im Mittelpunkt. In der Gegenwart besucht der Ich-Erzähler, bei dem es sich offensichtlich um einen Schriftsteller handelt, mit seiner Freundin Madrid und trifft auf einen Aufmarsch alter Falangisten, die das Gedächtnis an Franco wach halten; zugleich erinnert er sich an einen alten Schulfreund, der sich im Foto eines Kindes in einer Babynahrungs-Werbung wiederzuerkennen glaubt und seltsame Theorien aufstellt, wie das Bild damals gemacht wurde – das erste Zeichen einer psychischen Erkrankung, wie sich zeigt, die schließlich zum Bruch zwischen den Freunden führt. Beide Handlungsstränge sind durch diverse Motive verknüpft – das Leben in der Erinnerung, Medien, Wahnsinn –, ohne dass jedoch eine zwingende Verbindung hergestellt werden würde, und einzig zusammengehalten durch die Assoziationen des Erzählers. An dieser Konstruktion hängen die Vorzüge und Nachteile der Erzählung. Wie schon in seinen beiden Romanen erweist sich Marcel Beyer als Meister einer stark rhythmisierten Sprache und genauer Beobachter, der alle anderen ›Erinnerungsautoren‹ seiner Generation weit hinter sich lässt – wie bei der Beschreibung des Essens bei einem Kindergeburtstag: »Kein Nachmittag, wie man ihn noch einmal zu erleben meint, wenn man den Geschmack von Stachelbeertorte wieder auf der Zunge hat, Gelee umhüllt die Beeren, vor deren Berührung man zurückgeschreckt ist, haarige Haut, ein leichter Würgereiz. Man wird die grüne, pralle Kugel schlucken müssen, ehe sich im Mund der Tortenguß von ihrer Oberfläche löst. Und kein Geruch, wie er entsteht, sobald die Kuchengabel in der Hand liegt, Hautfeuchtigkeit, oder hat man die Hände nicht richtig gewaschen, ein Phänomen, es muß das Silber sein, dieses fremde Material, das in den Mund zu stecken einem nicht einfiele, wenn die Erwachsenen am Tisch es nicht vormachten, so, völlig selbstverständlich, wie eine ganz normale Kuchengabel. Nur an die Zähne kommen darf sie nicht.«

 

Auch wenn die Verbindung der Geschichten durch die assoziative Form des Textes, der manchmal nur aus einem kurzen Absatz mit einem präzise geschilderten Eindruck besteht, weniger gezwungen erscheint als in Spione – die Stadtimpressionen und die Erinnerung an eine Freundschaft, die zu flüchtig beschrieben wird, als dass sie berühren könnte, wollen sich nicht so recht zu einem stimmigen Ganzen fügen. Am Ende der Lektüre bleibt der Eindruck, dass man Passagen aus dem Notizbuch des Autors gelesen hat, die etwas verkrampft mit einer Handlung versehen wurden.

 

Vergeßt mich ist in der DuMont-Jubiläumsreihe neben einem kurzen Text Claude Simons erschienen. Marcel Beyer hätte das Zeug dazu, an die Tradition dieses Altmeisters anzuknüpfen, wenn es ihm wie in Flughunde wieder gelänge, seine atemberaubende Sprache mit einem historischen Inhalt auf einleuchtende Weise zu verbinden.

 

Thomas von Steinaecker

 

Marcel Beyer: Vergeßt mich, DuMont 2006

 

Cohen+Dobernigg Buchhandel

 

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