28. April 2006

Schön wie minimal music

 

Es war nur eine Frage der Zeit, dass Robbe-Grillet einen seiner Romane „Im Labyrinth“ (1959) nennen würde, denn der Nouveau-roman in der Spielart seines Hauptvertreters ist vor allem eine Literatur des Déjà-vu. Dabei sollte dem Leser seiner Romane ja zunächst die traditionelle Form des Romans unmöglich gemacht werden. Scheinbar eingängigste Beschreibungen von Dingen, Plätzen, Attributen etc., von denen man erst mal nicht wusste, wozu „das“ gut sein sollte. Geschichten, die nicht ordentlich erzählt wurden und die nirgends hinführten. Figuren, die seltsam emotionslos daherkamen und jedes Innenlebens entbehrten. Eine Art Versatzstückliteratur trat einem entgegen. Robbe-Grillets Texte lasen sich wie literarische Demonstrationen zeitgenössischer strukturalistischer Theorien, die sich anheischig gemacht hatten, den „Dingen“ die Substanz zu rauben, indem sie die Parole verfochten, dass der Wert eines Elements allein von seiner Nachbarschaft abhänge. Mit der Zeit – das heißt, mit der Veröffentlichung weiterer Romane nach „Les gommes“, „Le voyeur“ und „La jalouise“ – begann die Kritik zu bemerken, allen voran Bruce Morrisette und Roland Barthes, dass Robbe-Grillet nicht ganz darin aufging, ein bloß Beschreibender von Dingen (im weitesten Sinn) zu sein. Die Psychologie meldete sich zurück, am stärksten sicherlich in der „jalousie“ (1957). In ihrer Obsession bekamen die Beschreibungen etwas Abgründiges, Paranoides. Die Versatzstücke waren wieder beziehbar auf eine Psyche, die sie repetierte. In dem nachfolgenden Roman „Im Labyrinth“ ist die Obsession nicht weniger stark, aber sie verdankt sich wieder mehr einem formalen Konstruktionsprinzip. Insofern ist „Im Labyrinth“ stärker konzeptuell gearbeitet als die „Jalousie“. Es ist der Versuch, einen Text zu schreiben, der die Erfahrung dessen literarisch-fiktional nachahmt, der ein Labyrinth begeht, aus dem es kein Entrinnen zu geben scheint. Natürlich ist auch dieser Roman ein Beispiel von Robbe-Grillets Elementarlehre: rekurrente Dinge, die nicht weiter zerlegt, sondern subtil neu verortet werden. Das können ganze Plätze oder Straßen sein, Straßenlaternen, Figuren, die sich dort treffen und wieder auseinander gehen, staubige Innenräume mit Lampen, Kommoden, Gemälden, die plötzlich, in anderen Begehungen, zu Fotografien mutieren, es gibt Rückblenden, die eine Variante bilden zu dem, von dem sie eine Rückblende sind, es gibt fragmentierte Fassungen, Abbrüche und erstaunliche Fortsetzungen von Medien in andere Medien: Kaum folgte man dem Beschreibenden eines Bildes noch beim Bildaufbau, so ist man im nächsten Moment im Bilde, erlebt gewissermaßen die Fortsetzung dessen, was nur scheinbar angehalten auf dem Bild zu sehen war. Und so folgt der Leser einem Soldaten in diesem Roman durch eine Stadt, die völlig unbelebt scheint, die der Schnee mit einer angenehmen Weiße bedeckt (analog zum Staub in den Innenräumen), der Soldat hat ein Päckchen bei sich (mal ist es ein Schuhkarton, mal ein Schokoladenpäckchen), das er an einem bestimmten Ort abgeben soll, von dem er aber weder Name noch Distrikt kennt, und so irrt der Soldat durch die Straßen, trifft immer wieder auf diesen Jungen, der ihm unangenehme Fragen stellt, lernt eine junge Frau kennen (die Mutter?), kehrt in einer Kaserne ein (oder ist es ein Lazarett?) und scheint an manchen Stellen eben jener andere (tote) Soldat zu sein, für den das Päckchen eigentlich bestimmt war. „Im Labyrinth“ hat also jeder sein Päckchen zu tragen. Man frage nicht, was drin ist. In einer technischeren Abwandlung einer berühmten Gedichtzeile kann man bloß sagen: Es ist, als hätten Paradigmata/das Syntagma still geküsst. Wer einmal dieses schöne Spielzeug in die Hand genommen hat, wird es nie wieder los.

 

Dieter Wenk (04.06)

 

Alain Robbe-Grillet, Dans le labyrinthe, Paris 1959 (Les Éditions de Minuit); deutsch unter dem Titel: Die Niederlage von Reichenfels, 1967 (Rowohlt)