1. August 2005

Friedhofsbesuche

 

Ein Arzt, „sogar Medizinalrat“, stattet der Mutter eines viel zu früh verstorbenen Mädchens einen Besuch des Trostes und Beileids ab. Ein Kranz aus Holunderblüten, den das Mädchen auf einem Ball, bevor sie ein tödliches Fieber dahinraffte, trug, erweckt die Aufmerksamkeit des Arztes. Da der Kranz nur aus künstlichen Elementen besteht, gibt es über dieses Mädchen nichts zu berichten. Dafür steigt eine Erinnerung aus dem Gedächtnis des Gastes hervor, das wirkliche Holunderblüten mit einem vielleicht nicht ganz so wirklichen Mädchen verknüpft. Aus der Kindheit des Arztes, Heinrich, erfährt man so viel, dass er früh seine Eltern verlor, ein nicht unbeträchtliches Vermögen erbte und von einem missgelaunten Vormund um die Sonnenseite seiner Jugend gebracht wurde.

 

Als Student in Wien hat er viel nachzuholen. In Prag möchte er wieder ruhigere Gefilde betreten. Es wundert deshalb nicht, dass sein erstes touristisches Ziel ein Friedhof ist, der berühmte alte Judenfriedhof in der Josefstadt. Aber die Reise dorthin bringt ihn gleich vom rechten Wege ab. Er landet in der schönsten Romantik mit dem Gesicht einer 15-jährigen kleinen Jüdin, denn sie wird sein Reiseführer ins Reich der Toten. Eine seltsame Zuneigung, die keine Liebe sein will, bemächtigt sich des Studenten. Wo immer er sich aufhält, er denkt nur an Jemima Löw, so der Name der Kleinen. Er wird ein wenig krank darüber, und erst im Augenblick, als er wieder mit Jemima auf dem Friedhof sich aufhält, geht es ihm wieder gut, um es ganz unpathetisch zu sagen. Zwei in ihrer Kindheit vom Leben ausgeschlossene (wie Heinrich in der Bücherstube, wuchs Jemima auf dem Friedhof auf, den man paradoxerweise „Haus des Lebens“ nennt) finden zusammen und können doch nicht zueinander kommen. Eine jeweilige Blindheit beschlägt beide, Konsequenz eines zu langen Alleinseins. Heinrich sieht vor lauter Literatur nicht die konkrete Gestalt seiner jungen Freundin, die sich vor dem Hintergrund der kompletten Palette Shakespeare’scher Frauen auflöst.

 

Jemima wiederum, die sich nur auf dem Friedhof und den Tausenden von Viten der Toten auskennt, fehlt jede andere identifikatorische Alternative und wählt deshalb das Schicksal einer jung verstorbenen Tänzerin, die als letzte auf dem Judenfriedhof begraben wurde, als Deutungsmuster ihres eigenen nur noch kurzen Lebenswegs. Mahalath, so der Name der Tänzerin, habe ein zu großes Herz gehabt, an dem sie zugrunde gegangen sei. Zur Beglaubigung ihrer eigenen Vorhersehung nimmt Jemima die Hand ihres ärztlichen Freundes und legt sie auf ihre Brust, damit er fühle, wie es poche. Jemima erschreckt Heinrich mit dem frühreifen Spruch, dass das Pochen der Brust kein Liebeszeichen, sondern die Totenglocke sei, welche ihr „zu Grabe läutet“. Mahalaths Herz sei nicht von Liebe vergrößert, sondern von dem Wunsch nach mehr Licht für sich und ihre im dunklen Ghetto Prags wohnenden Leidensgenossen. Nachdem aber nun die Mauern gefallen sind, was für eine Sehnsucht bleibt jetzt noch für Jemima übrig, die ihr Herz so groß machte?

 

Das ist eine Seltsamkeit, über die der Leser nicht aufgeklärt wird und die Jemima mit in ihr frühes Grab nimmt. Vielleicht ist sie ein Medium für etwas, das sich nicht recht greifen lässt. Eine Projektionsfläche, die in keiner speziellen Liebe aufgeht. Aber auch ein grauenvolles Fantasma, das davon zeugt – wie eine Märtyrerin –, dass das Leben und die Liebe unvermittelt an den Tod angeschlossen sind. Wie wilde Holunderblüten, die sich am effektvollsten auf uralten Grabplatten räkeln.

 

Dieter Wenk (07.05)

 

Wilhelm Raabe, Das Letzte Recht, Holunderblüte. Erzählungen, Stuttgart 1961 (Reclam)