28. Juli 2005

Wohin mit der Popmusik?

 

Nachdenken über Pop hat Tradition und fast in jeder Adoleszenzphase seinen Platz. Denn noch bevor man im Zweitausendeins-Laden ein Greil-Marcus-Buch oder an der Uni einen Cultural Studies Reader in der Hand hat, begegnet man im Laufe seiner Musiksozialisation schon so vielen Elvis-lebt-Thesen (oder wahlweise Grant Hart vs. Bob Mould oder Lennon vs. Mc Cartney-Diskussionen), dass der Schritt, mit komplizierten Vokabeln bei eingeschränktem Fantum über die Sache zu reflektieren, später nur noch ein kleiner ist. Diesen Weg des gedrosselten (aber nicht ganz versteckbaren) Fantums unter Zuhilfenahme von extrem voraussetzungsreichen Theoriebegriffen geht die aktuelle Ausgabe von „Soziale Systeme“ mit ihrem Schwerpunkt Pop, die einen Aufsatz in Sachen Pop und vier kompetente Stellungsnahmen dazu vereint.

 

„Soziale Systeme“ sind nicht das primäre Organ, an das man sich wenden würde, um Einsichten in Sachen Populärkultur zu erhalten, da man auf den ersten Blick erst mal nicht damit rechnet, dass Jungs (denn es sind bisher erfahrungsgemäß meist nur Jungs), die Systemtheorie lesen, coole Frisuren und coole Schallplatten haben. Galt zu Zeiten von Habermas die Systemtheorie noch schwer verdächtig, so hat sich mittlerweile rumgesprochen, dass Systemtheorie heute heißer Scheiß ist und Distinktionsgewinne verspricht. Denn mit Systemtheorie können wir mittlerweile Kultur machen, Gender spielen, Mode ausprobieren und seit neustem auch Pop poppen. Das klappt meistens gut und manchmal weniger gut. Und da, wo es nicht klappt, gilt das Scheitern als Chance, da das Nicht-Greifen des Systembegriffs eben auch neue Erkenntnisse bringt.

 

Nicht so richtig klappen will der Versuch von Peter Fuchs (in anderen Veröffentlichungen sonst immer verlässlicher Schlaufuchs) und Markus Heidingsfelder, Pop als ein global operierendes Funktionssystem zu entwerfen. Die These lautet so: Mit Rock’n’Roll schließt sich das System. Ab da gilt: Das Pop-System besteht aus Provokationen im Medium des Songs, die sich unter dem Leitcode Hit/Flop aneinander reihen. Popsongs zeichnen sich durch massive Informationsverknappung, enorme Redundanz und Embodiment aus. Sie schaffen eine spezifische Kopplung von psychischem und kommunikativem System, indem sie es schaffen, „die Inkommunabilien der Wahrnehmung in den Kommunikationszusammenhang zu integrieren“.

 

Abgesehen von Petitessen, dass das Provokationspotenzial von, sagen wir mal Chris de Burgh, nur schwer nachvollziehbar ist, wird das Hauptproblem des Ansatzes doch relativ schnell klar: Die Abgrenzung zur (Avantgarde-)Kunst fällt äußerst schwer bzw. scheitert. Informationsverknappung und Redundanz kennen wir aus der modernen Lyrik, und was Fuchs und Heidingfelder zu Songtexten sagen, hört sich daher auch nach Roman Jakobson & Co an. Den Versuch der Kommunikation, das Bewusstsein einzuholen, bescheinigt Dirk Baecker bereits der modernen Kunst. Und auch Körperbezug und Provokation lassen sich leicht in der Kunst wieder finden. Fuchs und Heidingsfelder türmen bergeweise Songtexte auf, deren Semantik ihre These von der Ausdifferenzierung unterstreichen sollen, dennoch wird nicht klar, was gewonnen ist, geht man von einem eigenständigen System Popmusik aus, das sich von Kunst emanzipiert hat.

 

Das sieht die an den Aufsatz anschließende Diskussion genauso. Und hier wird es jetzt spannend. Denn der voreilige Wurf von Fuchs und Heidingsfelder kitzelt aus den Diskussionsbeiträgen einiges sehr Sinnvolles heraus. Vor allem Urs Stäheli geht sehr konstruktiv mit Fuchs/Heidingsfelder um. Er macht deutlich, dass sich die Provokation des Pop vor allem auf ein außerhalb des Systems bezieht. „Provoziert werden z. B. Liebes- und Sexualitätssemantiken, Körpervorstellungen und Leistungserwartungen etc.“ Das heißt, die Antwort auf diese Provokation findet nicht im Medium des Songs statt und nimmt somit auch nicht Teil an der Autopoiesis des vermeintlichen Pop-Systems, denn die Gegenprovokation passiert im Erziehungssystem, der Religion, den Massenmedien oder der Familie. Stäheli macht außerdem deutlich, dass der vermeintliche Leitcode Hit/Flop keine Eigenleistung des Pop ist, sondern vor allem im Wirtschaftssystem beheimatet ist. Zumal die Orientierung am Hit ja in der Popmusik nicht unbedingt zwingend ist und in vielen Bereichen der Popmusik auch strategisch unterlaufen wird, da kommerzieller Erfolg weniger Distinktionsgewinne einbringt als ein Nischendasein. Stäheli sieht den Unterschied zur Kunst vor allem im Umgang mit der eigenen Vergänglichkeit. Während die Avantgarde-Kunst ihre eigene Musealisierung schon fest eingeplant hat, wirkt diese Vorstellung in Sachen Pop als Verrat. Popmusik zelebriert, so Stäheli, eine unmittelbare Präsenz und wendet sich gegen Traditionstechniken. Aber auch gegen diese Unterscheidung zur Kunst lassen sich natürlich Einwände erheben: Best-of-Alben, NDW-Ausstellungen, Schlager-Moves. Popmusik wird nicht weniger archiviert als Avantgarde-Kunst (nur teilweise an anderen Orten), und somit erscheint auch dieses Differenzkriterium als Wackelkandidat.

 

Warum also überhaupt Popmusik von Kunst unterscheiden, wenn es so schwer fällt? Könnte die Frage nicht viel eher sein, was populäre Kommunikation ist? Diesen Weg gehen Torsten Hahn und Niels Werber in ihrem Beitrag „Das Populäre als Form“. Und es scheint mir die schlauere Version zu sein. Zunächst erinnern die beiden daran, dass eine Schwalbe noch keinen Sommer macht, d. h. ein Code wie Hit/Flop reicht nicht, um ein System zu schließen. Denn Funktionssysteme entstehen, da sie auf spezifische gesellschaftliche Probleme antworten und diese dauerhaft lösen. Eine klitzekleine Binäropposition, an der sich Kommunikationen orientieren, reicht da nicht. Es ist also überzeugender, Pop-Kommunikation nicht als ein System zu denken, sondern als eine Form, die von verschiedenen Systemen herangezogen werden kann. Pop wäre somit kein rein musikalisches Phänomen, sondern beträfe genauso Politik (Politiker, die im Container auftauchen) oder womöglich Religion (Biker-Gottesdienst?). Hahn/Werber verstehen Pop als Strategie des Erreichens von Vollinklusion. „Wenn man will, dass potentielle Wähler wählen, Konsumenten kaufen, Liebende heiraten, Arbeitende Steuer zahlen, Kinder lernen, Empfänger fernsehen oder Christen glauben – dann benötigt man populäre Verfahren der Inklusion.“ Versteht man das Populäre als Strategie, ist man ihm schon ein riesiges Stück weiter auf die Pelle gerückt. Das Populäre als Form macht so Strategien innerhalb verschiedener Funktionssysteme vergleichbar, die allesamt darauf zielen, zur Teilhabe zu motivieren.

 

Wow. Damit ist jetzt ja noch nicht alles geklärt, was man zum Populären sagen kann, aber man hat schon einiges in der Tasche. Natürlich ergeben sich jetzt Anschlussfragen innerhalb des systemtheoretischen Theoriedesigns: Wie ist das Verhältnis von Kultur und dem Populären, lässt sich das Funktionieren des Populären mit dem von symbolisch generalisierten Kommunikationsmedien (die ja auch motivieren sollen) vergleichen? Ist das Populäre an die Massenmedien gebunden? Ist Provokation Bestandteil jeder populären Kommunikation? Fragen noch und nöcher. Man kann also noch weiter scharf nachdenken.

 

Abgesehen von der Pop-Diskussion enthält die aktuelle Ausgabe von „Soziale Systeme“ unter anderem einen äußerst lesenswerten Aufsatz von Harald Wasser, der versucht, dem Unbewussten im systemtheoretischen Gebäude ein Zimmer zuzuweisen. Man kann sich denken, dass Luhmann erst mal keinen Platz dafür gelassen hat, da das Bewusstsein im Gegensatz zur Gesellschaft keine Subsysteme kennt. Harald Wassers mutiger Vorschlag verabschiedet sich daher von der Vorstellung, der Operationsmodus von psychischen Systemen sei Bewusstsein, und ersetzt dieses durch Erleben, das eben bewusst wie unbewusst vonstatten gehen kann. Ein Vorschlag, der Folgen haben könnte.

 

Trotz poppiger Themen wird „Soziale Systeme“ nicht gleich als Nachfolger für die Spex der frühen 90er gehandelt werden können. Gegen systemtheoretisch inspirierte Plattenkritiken wäre allerdings nichts einzuwenden.

 

Jens Kiefer

 

Soziale Systeme. Zeitschrift für Soziologische Theorie. Jg. 10 (2004), Heft 2: Pop Diskussion

 

Peter Fuchs / Markus Heidingsfelder: Music No Music Music. Zur Unhörbarkeit von Pop