29. Juni 2005

Altruismus als Masochismus

 

Nicht immer, wenn Ehebruchsgeschichten erzählt werden und zuletzt einer der drei Beteiligten stirbt, ist Mord oder Totschlag im Spiel. Der 1867 in Basel geborene und in der erzählerischen Tradition Conrad Ferdinand Meyers stehende Rudolf G. Binding hat sich für seine 1912 erschienene Novelle „Der Opfergang“ eine Seltsamkeit ausgedacht, die aber einer allzu bekannten Logik nicht entbehrt. Albert Froben, beruflich einer der staatlichen Kupferstichsammlungen locker assoziiert, heiratet seine Cousine Octavia, Tochter eines Hamburger Senators, der ein ruhiges, seiner Würde angemessenes Haus an der Alster bewohnt, das hinter seiner Tadellosigkeit aber auch eine gewisse Langeweile und Unerbittlichkeit verbirgt. Octavia und Albert sind Seelenverwandte, aber Albert hat noch eine Seele mehr, von der Octavia ahnt, dass sie dieser nichts zu geben vermag.

 

Während eines sommerlichen Aufenthalts im Hause des Senators lernt Albert die lebensbejahende Joie kennen, eine Nachbarin des Senators. Mit dieser reitet der gefährdete Mann, der bereits kurz zuvor eine eigenartige nächtliche Bekanntschaft mit Joie als Nixe auf der Alster gemacht hatte, jeden Morgen aus, ohne dass deswegen der eigene Haussegen schief stehen würde. Die gehemmte Octavia hat sogar Verständnis für ihren Mann, der ihr alles brav sagt und in seiner Naivität und Offenheit auch eher wie ein Kind wirkt, das seiner Mutter oder Schwester beichtet. Octavia und Albert begegnen sich stets nur auf Armeslänge. Dazwischen hätte noch ein Körper Platz, der einen fröhlichen Namen trägt. In einer mondbeschienenen Nacht erlebt das Ehepaar ein seltenes Schauspiel. Joie, wie eine Somnambule, erscheint vor Alberts Fenster und blickt dabei den Mond an, den Albert nicht sieht. Joie sieht das Paar nicht, das sie beobachtet. Irgendwann geschieht es Joie in ihrer Entzücktheit, dass sie „zwei Hände voll Nacht“ aus der Fülle, in der sie steht, herausreißt, um „den Raub in ihren Händen im Spielen ihrer Kraft erwürgen zu wollen, ,wundervoll!’“ Gut zwanzig Jahre später wird in einem japanischen Lusthaus diese Fantasie grausam und konsequent umgesetzt. Bindings Sache ist das allerdings nicht. Sogar Joie darf nicht, wie sie will. Sie ist nämlich nicht nur Nixe, sondern auch Amazone, und da ist mit der Liebe Schluss. Joie ist nämlich Samariterin, Betreuerin blinder Frauen und elternloser Kinder. Albert ist also mit einem doppelten Kreuz geschlagen. Die eine kann nicht, die andere darf nicht. Das hat jedoch weniger moralische als mythologische Gründe. Und nur deshalb klappt diese ménage à trois, und zwar bis in den Tod, ja da gerade sehr gut.

 

Just die kraftvolle Joie wird ein Opfer der in Hamburg einziehenden Cholera, die sie jedoch nicht ganz dahinrafft. Der Arzt merkt schnell, dass es neben den üblichen Mitteln noch eine besondere Medizin gibt, die lebensverlängernd wirkt. Joie hat Sehnsucht nach Albert, die sie selbst ja auch mehr als die sexuelle Erfüllung verkörpert, und so erscheint Albert jeden Abend, in Reiterkleidung, an ihrem Haus, das er, den Hut lüftend und sie grüßend, passiert. Unglücklicherweise stirbt Albert an der Cholera. Und jetzt kommt der grandiose Opfergang, von dem der Titel spricht. Da Octavia nichts verschwiegen wurde, weiß sie um den Gang ihres Mannes und die Krankheit Joies. In einem übermenschlichen Kraftakt gelingt es ihr, drei Mal am Hause Joies vorbeizugehen und dieser ein Trugbild Alberts vorzuspielen. Mehr geht allerdings nicht mehr, aber jetzt ist Joie auch schon wieder auf dem Weg der Besserung und gelobt, als sie vom Opfergang Octavias hört, wieder ganz gesund zu werden, damit diese Absurdität nicht umsonst war. Octavia ist eine schöne Frau, aber sie ist eine Maschine, leicht zu bedienen. Trotzdem ist die Anleitung mittlerweile verloren gegangen. Ein Herz, das nur für andere schlägt, ist furchtbar. Heiner Müller hat ein Lied davon gesungen. Herzstück.

 

Dieter Wenk (05.05)

 

Rudolf G. Binding, Der Opfergang, Leipzig o.J. (Insel)