3. Juni 2005

50 Jahre Pop auf den Buchrücken

 

 

Die Süddeutsche Zeitung veröffentlicht nun jede Woche in der Reihe „Diskothek“ ein schmales Buch inklusive einer CD (im Rücken platziert), das jeweils ein Jahr aus 50 Jahren Popgeschichte (1955 – 2004) behandelt, als müsste es zum Arzt.

 

Das glorreiche 1978 macht den Anfang: „1978! Nehmen Sie bitte Platz im Behandlungsraum 24.“ Was dabei herauskommt, ist ein ganz neues 1978. Eines, das es so noch nicht gab.

 

Das 81-seitige Booklet als Hardcover beeinhaltet ein Interview mit John Travolta, eine Fotostrecke, ein Interview mit Sid Vicious und Johnny Rotten von den Sex Pistols sowie jeweils eine Seite zu den 20 Songs, die von Musikjournalisten vorgestellt und kommentiert werden.

 

Der Untertitel „Ein Jahr und seine 20 Songs“ lässt die Frage aufkommen, ob die (Globalherrschaft der) SED in diesem Jahr nicht mehr hat auf Platte pressen lassen. Denn so selbstverständlich ist die getroffene Auswahl nicht. Das ist natürlich auch nicht möglich, aus der Fülle eines solch reichen Jahrgangs die ultimativen 20 heraus zu filtern. Nur, so zu tun, als seien diese Songs die einzig möglichen des Jahres 1978 ... das ist schon seltsam in seiner Arroganz.

 

In Deutschland gab es in jenem Jahr neben jeder Menge Wald- und Wiesenfestivals, den abebbenden Tiefausläufern von Krautrock, eine gewaltige Depression, die sich seit Jahren über das Land gelegt hatte. Radiorekorder hatten zweimal 6 Watt. Die Lehrer hörten Floh de Cologne, Popul Vuh, Amon Düül 2, Santana und Bob Dylan. Jefferson Airplane und Starship bekamen eine vierteilige Reportage-Reihe in der deutschen Ausgabe der Musikzeitschrift „Sounds“, die auch eine Anzeige der Bundesregierung druckte: „Gewalt ist Schitt“ – und das, während der Polizeistaat aufgerüstet wurde („1. bis 10. Preis: Flug mit einem Polizeihubschrauber / 21. bis 30. Preis: 1 Tag im Landeskriminalamt“). Ausbildungsplätze waren rar. Taschenrechner von Texas Instruments waren groß, immer noch in Mode und kosteten mindestens 45.- DM.

 

Typen, die gut in Mathe waren und lange Haare hatten, lasen Castaneda und Fantasy-Romane, kifften und hörten Yes, Alan Parsons Project und Steve Hillage. Dire Straits und Joan Armatrading veröffentlichten finanziell Gewinnbringendes. Und: „die tageszeitung“ erschien zum ersten Mal. Peter Urban, der seit Jahren den europäischen Schlager-Grand Prix (oder wie das heißt) kommentiert, spielte in einer Band namens Pussy. Suicide, Pere Ubu, The Stranglers, Elvis Costello, Devo, The Talking Heads, Siouxsie and the Banshees, Wreckless Eric, die Flamin Groovies und tausend andere Bands veröffentlichten Debüts, großartige Singles und Nachfolgewerke. Brian Enos Album „Before and after science“ erschien, „Comes a time“ von Neil Young und „Who are you“ von The Who.

 

Alfred Hilsberg, späterer Punk-Papst, rezensierte 1978 im „Sounds“ die „Some Girls“-LP der Rolling Stones und fand, sie sei – von der Gitarrenarbeit – eine der besten Stones-Platten seit Let it bleed und Exile on main street und hätte mehr Energie, als der bereits halbtote Punk in jenem Jahr. Wer weiß, was Hilsberg wirklich geschrieben hat, veröffentlicht wurde jedenfalls: „Sollte Jagger wirklich gesagt haben, daß die Rolling Stones mit ihrer neuen LP ‚den Punks zeigen wollen, was Rock‘n’ Roll ist‘, dann haben sie ihr Vorhaben realisiert (...) Sie haben endlich wieder eine Platte gemacht, die ihren thematischen und musikalischen Kompetenzen von 1978 entspricht. ‘After all is said and done‘ (Keith) hat auch der Punk seine Schuldigkeit getan.“

 

Erstaunlich. Im Rückblick lässt sich vieles anders darstellen, als es in der Gegenwart von vorvorgestern passiert ist. 1978 hatte viele Seiten.

 

Die CD der Süddeutschen Zeitung versammelt Kerniges, kristallisiert den Umbruch (der aber eine Gleichzeitigkeit hatte, die schwer nachzuzeichnen ist). Die CD enthält u.a. großartige Titel von Wire („Outdoor Miner“), The Jam („Down at the tube station at midnight“), den Ramones („I wanna be sedated“), X-Ray-Spex („Identity“), Buzzcocks („Ever fallen in love“), Blondie („Denis“), The Only Ones, Marvin Gaye, The Normal, Gloria Gaynor, Warren Zevon, Alcione und Patti Smith.

 

Zusammenfassungen und Compilations von Jahren und Dekaden gibt es bereits viele. Es scheint, als gäbe es ein großes Verlangen nach der alten Übersichtlichkeit. Die Einteilung der Popgeschichte in Wochen, Jahre, Dekaden, Stilrichtungen und Images ist halt eine eher journalistische Disziplin. Ich will mich hier nicht zum Streckenposten von Jahresringen aufspielen, irgendwie muss man ja sortieren. Aber: Übersicht hat nur, wer vieles übersieht. Und das scheint ein langanhaltender Trend zu sein. Historische Dringlich- und Notwendigkeiten, Ursachen und soziale Folgen sind anscheinend störend-uncool.

 

20 Titel mal 50 ergeben Tausend und damit ein unsterbliches Reich: POPLAND.

 

Was in diesem Buch fehlt, vor allem im Travolta-Text von Philipp Oehmke, ist die leiseste Vorstellung von jenem Hass, den man ´77/´78 empfand, mit Discokugeln, Polyester-Anzügen von C&A sowie Burgern von McDonalds abgespeist zu werden, nachdem die Hippies und die RAF mit anderen Entwürfen und radikalem Widerstand gescheitert waren (dabei waren zu scheitern, oder sich verrannten) und Punk zwar den richtigen Ton traf, sich aber als Inszenierung entlarvte. Es gab damals eine Kulturrevolution, davon kann man sich mit hilfe dieser Compilation keine Vorstellung machen. Anzunehmen, dass man heute noch (immer) über Travolta lesen möchte, (lieber als z. B. über McCartneys (Chicken) Wings), erscheint mir da als Farce. Disco hatte zwar in den USA seine Wurzeln in der Kultur der Schwarzen und Homosexuellen, in der BRD war Disco in seiner Mainstream-Rezeption einfach nur unerträglich. Den Halbstarken in der „Disco“ des Mümmelmansberger „Haus der Jugend“ im östlichen Vorort Hamburgs, war es egal, ob sie sich zu Travoltas „Saturday Night Fever“, Billy Joels „Just the way you are“, Gerry Raffertys „Baker Street“ oder zu Bob Segers „We´ve got tonight“ gegenseitig eins in die Fresse zimmerten. Daher ist es schön, dass Frank Farians Erzeugnis („Rivers of Babylon“ von Boney M.) nicht auf dieser CD ist. Dazu nämlich wurde am schlimmsten geprügelt. Und einige Erinnerungen an die Pop-Jugend müssen auch nicht immer wieder recycled werden. Disco in Deutschland ... dafür gibt es doch RTL und Sat1, gab es Ilja Richter, Dokus noch und nöcher, Werner Becker in New York undundund. Disco in echt Deutschland war ein Grauen, weil Tanzschulen sofort diesen Tanz in ihr Standardprogramm aufnahmen und es plötzlich chic war, wieder eingeübte Schritte zu praktizieren, sich Mitschüler als schlimme Wackelkandidaten entlarvten und die ganze Sache mit Glam und Roxy Music auf Klassenparties zugunsten eines bizarren Missverständisses namens John Travolta verschwand. Ich kenne viele, die den Film „Pulp Fiction“ nicht ertragen, einfach, weil John „Raumschmiere“ Travolta darin mitspielt. Will sagen: Nicht nur Punks und Hippies hassten Disco. 1978 erschien übrigens auch ein Album namens „Sesame Street Fever“, eine Version des Discoklassikers von den amerikanischen Sesamstraßen-Machern. Disco in Deutschland funktionierte rein eskapistisch. Der Hedonismus, den Musikkritiker dabei angeblich zelebriert sahen, hatte etwas Stilloses, Zersetztes und Unförmiges. Eine Hand, die den Weg in den Boden betonte und eine, die in die Luft wies ... das wurde zur indifferenten Lebensmaxime und zum neuen Standardtanz einer Generation, die sich bereits in der Pubertät von der Suche nach einer eigenen Identität verabschiedet hatte. Was sich dazwischen abspielte hat keinen Namen. Wozu das auch alles ... X-Ray-Spex haben mit „Identity“ den richtigen Song dazu gemacht.

 

Disco wird (nicht nur) in diesem Buch zur Compilation zu etwas stilisiert, was es nicht war: „Auf der Tanzfläche vermischen sich alle und zum ersten Mal in einer Jugendbewegung zählen Hautfarbe, Einkommen, Status oder Beruf nicht mehr“ schreibt Philipp Oehmke auf Seite 10 des Buches. In Woodstockhausen wurden demnach getrennte Areale eingerichtet: Weisse und Schwarze, Frauen und Männer, Farmer und Intellektuelle, Adelige, Fabrikarbeiter, Künstler und Journalisten hatten ihre eigenen Logen und Boxen, durften keinen Kontakt miteinander haben. Woodstock war nämlich nur eine TV-Inszenierung, wie die Landung auf dem Mond. Nur eben im Schlamm.

 

Das ist auch Pop: Dass bei jeder Gelegenheit festgestellt wird, was zu dieser oder jener Zeit, in der der Journalist gerade pubertierte, ganz neu ist und/oder war, was aber in der Geschichte der Gegenkulturen eine klare Kontinuität hat. Geschichte heißt anscheinend, dass alles passend gemacht wird, so wie man es gerade braucht. Eine Frage der Macht.

 

Und während manches so tut, als sei nix gewesen, und die Beobachter der Gegenwart verschlucken, was an der Gegenwart schmerzhaft ist und relevant, und sich auf den Posten des coolen, jovial-distanzierten „Ich-sitz-auf-Wolke-9“-Journalismus zurückziehen, hört man die Ramones noch immer „I wanna be sedated“ singen. Weil man es einfach nicht aushält, dass es ist, wie es ist. Damals nicht und heute nicht.

 

Wenn diese distinguiert-leidenschaftsloe Zentralperspektive sich durch 50 Jahre Popgeschichte schleppt, was ich nicht hoffe, an diesem und jenem nippt und wieder ausspuckt, als habe man sich da nicht vermischt, wäre es schade um das Projekt. Aber so verhält sich das Feuilleton gern: Als wäre die (Kultur-)Geschichte der Sehnsucht nach anderen Umständen, nach Revolten und einer anderen Welt nur ein Museum, in dem Schlachtfelder auf Tischbeine geschraubt werden, die dann zur Belustigung und Unterhaltung ausgestellt werden. Früher nannte man so eine unter-Haltung bourgeois.

 

Die Texte zu den einzelnen Songs sprechen eine andere Sprache. Aber dass auf sechs Seiten der 21-seitigen Fotostrecke eine Speisenfolge von Eckart Witzigmann abgebildet ist, untermauert diese Vermutung wie ein Weinkeller die Trutzburg: Geschichte, wie sie im Buche steht – und auch die „volkseigene Pop-Geschichte“ (die nie volkseigen war, aber ständig so benannt wird) – ist eine Delikatesse, die aus eines reaktionärem Gestus heraus zubereitet wird.

 

50 Jahre Popgeschichte müssen schließlich auch jüngeren Generationen zugänglich gemacht werden. Songs werden dann zu ausgestopften Plüschtieren auf hölzernen Sockeln, zu Wolpertingern einer anderen Zeit. Damit das, wofür diese Kultursignale einst standen, aus dem Zusammenhang gerissen, in den Imagepflegekult der Medien ein- und aufgehen und man diesen einen Namen aufdrucken kann. Kulturimperialismus ist nur ein Wort. Ein viel zu hartes.

 

An dieser Stelle wird, so war das 1978, ein wohlig abgestandenes „Fuck U!“ gereicht. Mit angestanztem Mittelfinger (zum Ausklappen). Die CD ist trotzdem klasse.

 

Carsten Klook

 

4 Bücher inklusive CDs kosten 28.- Euro

 

www.sz-mediathek.de